Einige Gedanken zum Bildungsabbau

Von Jürgen Grahl
Jahrein, jahraus singen Politiker aller Couleur in Sonntagsreden das Hohe Lied der Bildung, schwadronieren vom „Humankapital“ als der einzigen Ressource unseres rohstoffarmen Landes und von Bildungsinvestitionen als „Zukunftsinvestitionen“, die man kräftig aufstocken müsse, doch die Realität sieht anders aus: Ob in Bayern, Berlin, Hessen, Niedersachsen oder Nordrhein-Westfalen - überall soll massiv an der Bildung gespart werden. In Bayern z.B. ist allein für 2004 die Amputation von 5 % der gesamten Universitätshaushalte geplant, bis 2008 ist gar von (inflationsbereinigt) 25 % die Rede. Und die rot-grüne Bundesregierung, die einst die Mittel für Bildung und Forschung hatte verdoppeln wollen, zieht sich immer mehr aus der gemeinschaftlichen Finanzierung des Hochschulbaus zurück, will die diesbezüglichen Mittel bis 2007 um inflationsbereinigt fast 30 % kürzen. Als vermeintlicher Ausweg aus der Misere wird die Einführung von Studiengebühren vorangetrieben, von den unionsregierten Ländern völlig unverhohlen, von den SPD-Ländern, die hier - wohl in wehmütiger Erinnerung an die Bedeutung des „S“ im Parteinamen - noch nicht ganz so „weit“ sind, vorerst noch eher verschämt und zögerlich.

Für die Proteste gegen den Bildungsabbau stellt sich freilich das argumentative Dilemma, dass es in einer Zeit der Einschnitte und Kürzungen in allen Bereichen, in einer Zeit, in der Rentner Nullrunden, Kranke höhere Selbstbeteiligungen und Arbeitslose massive Verschärfungen der Zumutbarkeitsregeln über sich ergehen lassen müssen, schwer zu vermitteln ist, weshalb ausgerechnet die Hochschulen und Studenten „verschont“ werden sollen. Alle, so ein weit verbreiteter Einwand, müssen sparen, müssen „ihren Beitrag bringen“, müssen den Gürtel enger schnallen, warum also nicht auch die Hochschulen?

Hier reicht es nicht, darauf zu verweisen, dass die Universitäten in den letzten Jahren bereits mehr als genug gespart haben, dass z. B. der Anteil der öffentlichen Ausgaben für die Hochschulen am Bruttoinlandsprodukt zwischen 1975 und 2001 von 1,08 % auf 0,89 % gesunken ist, obwohl sich die Studierendenzahlen im gleichen Zeitraum von gut 800.000 auf 1,9 Millionen mehr als verdoppelt haben (und derzeit weiter ansteigen). Denn so wichtig und richtig solche Argumente auch sind - sie wirken allzu leicht als bloße Rechtfertigung dafür, wieder einmal nach dem St. Floriansprinzip nur den Gürtel der anderen, nicht aber den eigenen enger schnallen zu wollen. Um hier nicht in die Defensive zu geraten, ist es unverzichtbar, sich mit der angeblich schicksalhaften Unausweichlichkeit der Sparzwänge und deren wahren Hintergründen zu beschäftigen. Dabei kommen uns unsere früheren Überlegungen über die Strukturfehler in unserem Wirtschafts- und Steuersystem zu Hilfe. Auch das über den Abbau der sozialen Sicherungssysteme Gesagte lässt sich praktisch wörtlich übertragen. (Siehe Artikel „Vom Elend der konv. Wirtschaftstheorien“ sowie Solarbrief 2/03 S. 7-16 „Reformieren statt Deformieren“)

Hier noch einmal eine Kürzestzusammenfassung: Bei den heutigen Krisenerscheinungen wie Massenarbeitslosigkeit, Staatsverschuldung, Krise der Sozialsysteme und nunmehr auch Finanzierungskrise der Hochschulen handelt es sich nicht um eine Wirtschaftskrise im eigentlichen Sinne; schließlich wächst die Wirtschaft ja auch weiterhin - wenn auch angeblich „viel zu langsam“. Vielmehr spiegelt sich in all diesen Phänomenen ein Versagen des Steuersystems wider, welches blind immer wieder in die „falschen Taschen“ greift: Nach wie vor finanziert der Staat weil er es immer schon so gemacht hat - die Gemeinschaftsaufgaben wie Bildung und soziale Absicherung primär durch Steuern und Sozialabgaben auf den Faktor Arbeit. Dahinter steckt die altehrwürdige Vorstellung, dass fleißige Arbeit noch immer die Quelle allen Wohlstandes sei, und dass derjenige, der über Gesundheit und Arbeitskraft verfügt, aus sozialen Gründen von seinem Lohn abgeben solle. Dass die menschliche Arbeitskraft gerade in der Massenproduktion von Konsumgütern aber nicht mehr sonderlich gefragt ist und längst vom Faktor Energie abgelöst wurde, wird dabei ignoriert; ja es wird der Energie noch nicht einmal der Status eines „Produktionsfaktors“ zugebilligt. So verstärkt unser veraltetes Steuersystem noch das fundamentale Ungleichgewicht, das zwischen den beiden Produktionsfaktoren Arbeit und Energie besteht und das sich - abstrakt ausgedrückt - in der Diskrepanz zwischen Faktorkostenanteilen und Produktionsmächtigkeiten ausdrückt (Energie ist effektiv und billig, Arbeit hingegen in der gewerblichen Produktion unergiebig und teuer). Als Folge dieser Schieflage werden bei jeder Firmen-Umstrukturierung Kombinationen aus Kapital und Arbeit durch Kombinationen aus Kapital und Energie ersetzt. Für die „freigesetzten“ Arbeiter müssen dann durch Neugründungen von neuen Unternehmen neue Stellen geschaffen werden. Dies zwingt die Wirtschaft in die Abhängigkeit von permanentem Wachstum hinein, das vom Staat ständig schuldenfinanziert angekurbelt werden muss. Jedes Zurückbleiben hinter dem „notwendigen“ Wachstumspfad von 3 % jährlich verschärft die Probleme auf dem Arbeitsmarkt, den Sozialkassen, den Staatshaushalten und damit auch bei der Bildungsfinanzierung. Eine zusätzliche Zuspitzung erfahren diese Probleme durch die Eskalation der Zinslasten und die damit verbundene gigantische Umverteilung von unten nach oben. (siehe hierzu den Artikel von Helmut Creutz in Solarbrief 3/03, S. 30-32)

Die Finanzierung der Gemeinschaftsaufgaben primär über den Faktor Arbeit hat also die gleichermaßen wichtigen Ziele „Schaffung von Arbeitsplätzen“ einerseits und „Finanzierung von Bildung, Sozialstaat usw.“ andererseits in einen vermeintlich unauflösbaren Grundkonflikt gebracht: Im Interesse des ersten Ziels müsste Arbeit billiger werden, was den Abwurf des „sozialen Ballastes“ gebieten würde, also die Preisgabe des zweiten Ziels! Um die Finanzierung von Schulen und Hochschulen wie auch der Sozialsysteme und sonstigen Gemeinschaftsaufgaben dauerhaft zu sichern, ist es daher dringend geboten, dafür endlich auch den Faktor mit der höchsten Produktionsmächtigkeit, die Energie, heranzuziehen und im Gegenzug die Arbeit steuerlich zu entlasten. Wir sehen also, dass es nicht allein darum gehen kann, die Hochschulen von den den anderen Bereichen und gesellschaftlichen Gruppen auferlegten Spardiktaten auszunehmen, sondern vielmehr die Sparzwänge selbst in ALLEN Bereichen im oben skizzierten Sinne simultan anzugehen. Dazu gilt es, zunächst einmal die theoretischen Grundlagen zu legen, um die kurzschlüssige Argumentationskette aufzubrechen, dass wir alle den Gürtel enger schnallen sollen, weil nicht genug Geld in der Staatskasse sei.

Die betroffenen Gruppen - zum einen Erwerbstätige und Beitragszahler, zum anderen Rentner, Kranke, Arbeitslose, zum dritten Schulen und Hochschulen dürfen sich nicht gegeneinander ausspielen und in einen bloßen Verteilungskampf hineinzwingen lassen, wie es die neoliberalen Deformer getreu der bewährten Herrschaftsstrategie „Divide et impera!“ versuchen, etwa indem sie mit Verweis auf die demographische Entwicklung einen Scheinkonflikt zwischen Jung und Alt, zwischen sozialer und intergenerationeller Gerechtigkeit konstruieren oder indem sie den Sozialabbau als Rechtfertigung für den (nunmehr quasi aus Gründen der Gleichbehandlung erforderlichen) Bildungskahlschlag instrumentalisieren. Vielmehr müssen diese Gruppen sich darauf besinnen, dass sie letztlich als gemeinsame Leidtragende alle im selben Boot sitzen - was die Chance auf eine breite Allianz für wirkliche Reformen anstelle der momentanen „Deformen“ eröffnet. Die Protestbewegung gegen den Bildungskahlschlag kann deshalb nur erfolgreich sein, wenn sie diese übergeordneten Zusammenhänge berücksichtigt und thematisiert, sich nicht auf einen Verteilungskampf um die ohne grundlegendes Umsteuern ohnehin unweigerlich versiegenden finanziellen Mittel beschränkt. Stellt sie sich aber dieser umfassenderen Aufgabe, so kann sie unser Gemeinwesen wieder auf einen Pfad zurückbringen, bei dem nicht die Wirtschaft an erster Stelle steht, sondern der Mensch.

Abschließend sei noch ein anderer brisanter Aspekt kurz angerissen: Die Demontage der Bildung ordnet sich ein in die in der Ideologie des Neoliberalismus und seinem Glauben an die Unfehlbarkeit des Marktes wurzelnden Bemühungen um die systematische Entmachtung des Staates und die Privatisierung und Kommerzialisierung von immer mehr Gemeinschaftsaufgaben. So wie die Krise der beitragsfinanzierten Rente und der gesetzlichen Krankenversicherung von interessierten Kreisen instrumentalisiert wird, um das bewährte kontinentaleuropäische Sozialstaatsmodell zu demontieren und die Menschen in die private Vorsorge zu treiben (und damit der Versicherungswirtschaft gigantische neue Märkte zu erschließen!), so soll nun offenbar die staatliche Bildung sturmreif geschossen werden, um den Weg für private Bildungsanbieter freizumachen. Eine unheilvolle Rolle hierbei spielt das Dienstleistungsabkommen GATS der WTO, das wir in Solarbrief 1/03, S. 26-30 ausführlich besprochen haben. Bezeichnend für die derartige Entwicklungen begünstigende Kultur- und Bildungsvergessenheit ist die unsägliche Äußerung des ehemaligen „Zukunftsministers“ Jürgen Rüttgers, der die Universität im klassischen Humboldtschen Sinne bereits 1997 für „tot“ erklärt hatte. Auch die Bestrebungen zur Einführung von Studiengebühren sind im Zusammenhang zu sehen mit dem systematischen Rückzug des Staates aus dem Bildungsbereich und dessen schrittweiser Kommerzialisierung. Es gibt viele gute Argumente gegen Studiengebühren, u.a. die damit verbundenen sozialen Ungerechtigkeiten; einer der gravierendsten Einwände besteht jedoch darin, dass jeder Besuch von für den betreffenden Studiengang „irrelevanten“ Vorlesungen, jeder Blick über den Tellerrand des eigenen Faches hinaus zum teuren Luxus würde. Damit würde die Reduktion des Studiums auf bloße Berufsausbildung weiter vorangetrieben; die Universitäten würden degradiert zu „Produktionsstätten“ für sich möglichst stromlinienförmig in die Erfordernisse der Wirtschaft einpassendes „Humankapital“, zum „Durchlauferhitzer“ für Schmalspur-Akademiker. Bereits 1964 hatte Erich Fromm geklagt: „Die überwältigende Mehrzahl der Menschen im Westen hat zwar die wissenschaftliche Methode in der Schule oder auf der Universität „gelernt“, ist aber von der Methode wissenschaftlichen, kritischen Denkens nie wirklich berührt worden. Sogar die meisten professionellen Naturwissenschaftler sind Techniker geblieben und haben sich keine wissenschaftliche Einstellung angeeignet.“ Durch die Kommerzialisierung der Hochschulen droht diese vornehmste Aufgabe von Bildung vollends auf der Strecke zu bleiben: die Erziehung zum kritischen Denken, zur intellektuellen Autonomie im Sinne des von Kant zum Wahlspruch der Aufklärung erkorenen „Sapere aude!“ (Red.: Wage es, deinen Verstand zu nutzen). Es sind dies genau die Qualitäten, die so dringend nötig sind, um die Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen. Daher sind Bildungsinvestitionen in der Tat im besten Sinne Investitionen in die Zukunft.