Nicaragua – Ein Blick über den Tellerrand

 

Die weltweite Energiewende, die wir brauchen, um den menschengemachten Klimawandel in Grenzen zu halten, ist am besten durch die nationale Vorreiterrolle eines industrialisierten, nicht ganz kleinen Landes voranzubringen. Das zeigt der Erfolg des deutschen EEG, durch das z.B. die Preise für die Erzeugung von PV-Strom seit dem Jahr 2000 um ca. 80 Prozent gesenkt werden konnten – von dieser Preisreduktion profitieren Akteure auf der ganzen Welt. Aufgrund dieses Erfolges und der bereits installierten Leistung regenerativer Energien ist Deutschland auch ein besonders geeignetes Land, um diese Vorreiterrolle der Energiewende weiter – oder genauer gesagt: wieder – zu übernehmen und z.B. die Anschubfinanzierung für Speichertechnologien beherzt voranzubringen.

Dennoch ist es wichtig, den Blick auch über den eigenen Tellerrand hinaus zu richten und die Bedingungen und Bemühungen in anderen Ländern zu beobachten. Dies kann nicht nur dazu dienen, die Bedingungen von Technologietransfer zu untersuchen. Sondern es geht auch darum, jede Borniertheit abzustreifen, nach der etwa „am deutschen Wesen die Welt genesen“ könne. Wenn die deutsche Bundesregierung etwa ihre Ziele für den Ausbau der Erneuerbaren Energien für ehrgeizig hält, dann lohnt sich ein Blick auf Länder, die, mit sehr viel bescheideneren ökonomischen Ressourcen ausgestattet, deutlich ambitioniertere Ziele setzen – und umsetzen.

Einer dieser Fälle ist das zentralamerikanische Land Nicaragua. Der Anteil Erneuerbarer Energien am Mix ist dort im Jahr 2013 auf 51 Prozent angestiegen. Bis zum Jahr 2020 plant die Regierung, diesen Anteil auf 90 Prozent zu steigern.

Man muss zugeben, dass es für Nicaragua relativ nahe lag, diesen Weg zu beschreiten. Die energiewirtschaftliche Lage des Landes war am Beginn unseres Jahrhunderts durch zwei Bedingungen charakterisiert: 1) durch einen eklatanten Mangel an Energie, wodurch viele Nicaraguaner z.B. keinen Zugang zur Stromversorgung hatten; und 2) durch eine massive Abhängigkeit von Erdölderivaten als Energieträger, wodurch das Land extrem abhängig von den Schwankungen des Ölpreises war. Nicaragua gehörte zu den Ländern der Erde mit dem höchsten Strompreis. Etwa 80% des Energiemixes stammten im Jahr 2003 aus meist veralteten Dieselgeneratoren, jeweils etwa 10% entfielen auf Wasserkraft und Geothermie, zwei Ressourcen, mit denen Nicaragua reich gesegnet ist. (www.ulm-jinotega.de)

Während die Diktatur des Somoza-Clans (1934-1979) hauptsächlich damit beschäftigt war, das Land auszuplündern, und wegen ihres Klientelverhältnisses gegenüber den USA wenig Anlass hatte, vom Erdöl abzurücken, wurde der Energiesektor auch nach der sandinistischen Revolution 1979 lange vernachlässigt – unter dem Druck des schmutzigen Contra-Krieges, den die USA dem Land aufzwangen, gab es andere existenzielle Prioritäten.

Die energiepolitische Ausgangslage stellte um die Jahrhundertwende also die Aufgabe, den veralteten Kraftwerkspark zu ersetzen und zugleich die Menge der generierten Energie massiv auszuweiten, zumal Nicaragua ein beträchtliches Bevölkerungswachstum aufweist (2003 = 2,6%). (de.wikipedia.org) Fast kann man also davon sprechen, dass die Ausgangslage die einer „tabula rasa“ war. Die Frage war nur, mit welchen Technologien man die Modernisierung bewerkstelligen wollte.

Vor der Präsidentenwahl von 2005 äußerte der sandinistische Präsidentschaftskandidat Herty Lewites in einem Interview: „Wir hängen fast zu 100 Prozent vom Erdöl ab, und wir haben so viele alternative Optionen, zum Beispiel geothermische Energie, wie könnten sogar elektrische Energie an unsere Nachbarn verkaufen. Wenn ich die Wahlen gewinne, werde ich sofort Investoren suchen, um die Elektrifizierung in Nicaragua zu entwickeln, mit Geothermie, Wasserkraft, Sonne und Wind, denn ein Land ohne Energie ist ein gescheitertes Land. Wir brauchen zuerst Energie, wenn andere Investitionen folgen sollen.“ (www.klimaschutz.com) Lewites wurde aus der FSLN ausgeschlossen, weil er gegen den Parteichef Daniel Ortega angetreten war. Die siegreiche FSLN hat aber nach den Wahlen zur Nationalversammlung von 2006 ihrerseits die energiepolitischen Weichen zugunsten der Erneuerbaren Energien gestellt. Dies ist insofern bemerkenswert, als die linke FSLN-Regierung mit dem Erdölexporteur Venezuela einen wichtigen Verbündeten hat, was ein Beharren auf dem Erdöl als Rückgrat der Energieversorgung verständlich gemacht hätte.

Seit der Rückkehr der Sandinisten in die Präsidentschaft im Jahr 2007 hat Nicaragua über 1,5 Milliarden US-Dollar in die Produktion erneuerbarer Energien investiert (bei einem Staatshaushalt von etwa 2,5 Milliarden US-Dollar im Jahre 2012) und gleichzeitig den Zugang zu Elektrizität ausgeweitet (auf jetzt 78% der Bevölkerung). (en.wikipedia.org, www.nicaragua-forum.de)

Nicaragua_2013

In dem Jahrzehnt zwischen 2003 und 2013 veränderte sich der Energiemix in Nicaragua dramatisch. Die nicht-erneuerbaren Energien wurden von 80% auf 47% zurückgedrängt. Die Wasserkraft blieb mit 9% relativ stabil, während der Anteil der Geothermie in dem vulkanisch aktiven Land von 10% auf 17% anstieg. Neu hinzugekommen ist Biomasse mit 9%, und Windenergie mit 18% am Energiemix. Die für 2017 projizierten Zahlen gehen von einem weiteren dramatischen Abbau der nicht-erneuerbaren auf 21% aus, hauptsächlich zugunsten von Wasserkraft und Geothermie.

Nicaragua_2017

Die in diesen Aufstellungen nicht enthaltene Solarenergie spielt in Nicaragua dennoch eine wichtige Rolle. Bis vor kurzem waren die installierten Solaranlagen aber nicht netzgekoppelt und auch nicht in den Energieplänen der nicaraguanischen Regierung enthalten, weil die Investitionskosten für den Anschluss der Anlagen an das nationale Stromnetz zu hoch erschienen. Als Off-Grid-Anlagen in abgelegenen Regionen des Landes spielten sie jedoch eine wichtige Rolle, um den dortigen Haushalten Zugang zur Elektrizität zu verschaffen. Dieser Sektor der „Solar Home Systems“ soll weiter ausgebaut werden.

2013 ging die erste netzintegrierte Solarfarm Nicaraguas in der Provinz Carazo in Betrieb. Mit einer Kapazität von 1,38 MW ist sie die größte Anlage dieser Art in Lateinamerika. Sie wurde hauptsächlich mit japanischen Geldern realisiert. (www.export-erneuerbare.de)

Ein eindrucksvolles Dokumentar-Video des entwicklungspolitischen INKOTA-Netzwerks mit dem Titel „Wenn die Ernte ausbleibt“ zeigt das wachsende Bewusstsein für den Klimawandel in der nicaraguanischen Bevölkerung. Bauern stellen sich auf die sich ändernden klimatischen Bedingungen ein und nehmen Abschied von nicht nachhaltigen Anbaumethoden. Neben solchen Maßnahmen der „Adaptation“ will man auch seinen Beitrag zur „Mitigation“, also Begrenzung des Klimawandels leisten; auch diesem Ziel dient die nicaraguanische Energiewende.

Am Schluss des genannten Videos sagt Flor Martínez, Koordinatorin des Projekts ODESAR (Organisation für integrale Entwicklung): „Wir sind bemüht, Anstrengungen zu unternehmen, um die Folgen des Klimawandels zu mindern. Aber nicht wir verursachen den großen Schaden. Es sind die reichen Länder, die Anstrengungen unternehmen sollten, um das Klima zu schützen und die Auswirkungen des Klimawandels zu begrenzen!“

Dem ist aus unserer Sicht nichts hinzuzufügen.