1994: Photovoltaik auf dem Dach der Welt

 

Kleine Photovoltaik-Anlagen mit Batteriespeicher für abgelegene Regionen ohne Anschluss an Stromnetze – das ist heute ein gängiges entwicklungspolitisches Instrument. Die offensichtlichste Funktion solcher Maßnahmen ist eine bildungspolitische: Wo Kinder unentbehrlich bei der familiären Feldarbeit sind, hängt ein erfolgreicher Schulbesuch auch davon ab, ob sie nach Sonnenuntergang noch ihre Hausaufgaben erledigen können. Dafür ist eine Versorgung mit Licht unverzichtbar. Doch auch für andere infrastrukturelle Bereiche können Off-Grid-PV-Anlagen hilfreich sein, z.B. im medizinischen Bereich, wo sie zur Kühlung von Medikamenten und Impfstoffen oder zur Wasserentkeimung eingesetzt werden können. Mancherorts ersetzen die PV-betriebenen elektrischen Leuchtmittel Kerosinlampen, deren Betrieb teuer ist und deren Verbrennungsprodukte gesundheitliche Probleme verursachen und – ebenso wie die oft noch verwendeten Dieselgeneratoren – zum Klimawandel beitragen. Vieles spricht also für diese umweltfreundliche und wartungsarme Lösung des dezentralen PV-Stroms, der heute auch noch die wichtige Aufgabe erfüllt, die allerorts für die Kommunikation so wichtigen Mobiltelefone aufladen zu können. (1)

Die Idee, mit PV Strom in entlegene Gebiete zu bringen, ist älter als der Siegeszug der Handys. Der Solarenergie-Förderverein Deutschland hat zu einem Pionierprojekt auf diesem Feld seinen Beitrag geleistet, an den hier erinnert werden soll. Im Jahre 1994 vermittelte der Verein eines seiner Mitglieder, den Elektrotechnik-Studenten Eckard Quitmann, an die „Aachener Nepalhilfe“ (ANH). Quitmann ist seit 1989 Mitglied des SFV.

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Foto: Eckard Quitmann im Jahr 1994. Quelle: Aachener Nachrichten/Martin Ratajczak.

 

Aus dem Dorf Lapsibot in der Region Gorkha im Westen Nepals war eine Anfrage an die ANH gerichtet worden, eine abendliche Beleuchtung des Gebäudes der dortigen Sekundarschule zu ermöglichen. Für diese weit von allen Stromnetzen abgelegene Himalaya-Gegend entschied man sich für eine Anlage aus sechs PV-Modulen, zwei Batterien und einem halben Dutzend Leuchtstoffröhren. Quitmann kaufte die Komponenten, plante die kleine Anlage und testete den Zusammenbau einmal vor der Abreise. Ende März 1994 brachte er diese Ausrüstung samt Kabeln und Werkzeug mit dem Flugzeug nach Kathmandu, sodann auf abenteuerlichen Straßen bis zur Provinzhauptstadt Gorkha. Ab dort wurden die nicht ganz leichten Teile durch Träger zu Fuß an ihren Bestimmungsort gebracht, was zwei Tage dauerte. Der Beruf des Trägers ist in dieser Region eine wichtige und angesehene Profession.

31.3.: „Auf dem Weg nach Labsibot. 6 Träger, Lakpa Sherpa (mein Guide) und ich. Einer trägt 2 Modulkisten (32 kg), einer trägt die sperrigen Stangen (20 kg), zwei tragen je eine Alukiste (40 kg), einer trägt meinen Rucksack und eine Modulkiste (30 kg), und die Krönung ist der Alte, der beide Kabelrollen trägt: 48 kg.
Dazu fällt mir nix mehr ein. Dabei wiegt der Typ selbst vermutlich nur 50 kg. Ich habe gerade mal mein Daypack mit ca 5 kg und bin am Schnaufen.“ (2)

In Lapsibot dauerte es eine knappe Woche, unter reger Beteiligung insbesondere der Lehrer die komplette Anlage zu installieren.

6.4., 12:00: „Es tut‘s! Pünktlich zu High-Noon sind Solarfeld, Akkus und Laderegler verbunden, es wird mit 7 A geladen – was will ich mehr?
Die letzten Stunden alles in der Kiste zusammenzufrickeln, war ganz schön schwierig, vor allem weil die Drähte so ungeheuer steif sind. Unter voller Spannung wurde der Laderegler an die Solarzellen angeschlossen – nicht ganz nach VDE, aber es ging nicht anders.

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Fotos: Die Schule von Lapsibot nach der Installation der PV-Anlage. Quelle: Eckard Quitmann.

 

Eine Woche später, am 13. April, notierte Quitmann, dass die beiden Akkus „randvoll“ seien. Am Abend darauf begann die elektrische Anlage mit ihrer eigentlichen Zweckbestimmung. Anlass der ganzen Aktion war nämlich der Wunsch der erwachsenen Frauen von Lapsibot, Lesen und Schreiben zu lernen. Da sie bei den täglichen landwirtschaftlichen Arbeiten unverzichtbar waren, ging dies nur abends. Die aus Aachen importierte PV-Anlage diente also der Einrichtung einer Abendschule. Etwa 50 Frauen, teils auch aus umliegenden Dörfern stammend, begannen also am 14. April mit dem Alphabetisierungskurs. Es war der Neujahrstag gemäß dem nepalesischen Kalender, dort begann das Jahr 2051.

14.4.: „Sie schienen Spaß gehabt zu haben, nachdem wir Männer uns endlich verzogen hatten und sie mit dem Primärschullehrer […] allein ließen.

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Fotos: Impressionen aus dem elektrifizierten Schulgebäude. Quelle: Eckard Quitmann.


Quitmann blieb insgesamt vier Wochen im Himalaya. Die zweite Hälfte dieser Zeit verbrachte er mit Besuchen anderer Dörfer der Region, um herauszubekommen, welche Wünsche an die ANH man dort hatte; sowie mit dem Verfassen eines technischen Handbuchs über die errichtete Anlage.

9.4.: „Der Science Teacher [Lehrer für Naturwissenschaften] soll die Anlage bewachen und zusammen mit den anderen gegebenenfalls reparieren. Für Hari Prasad [einen von zwei Helfern, die nun entlassen wurden] tut‘s mir Leid, der hätte wohl gerne weitergemacht, aber es ist nun mal leider nix zu tun an einer PV-Anlage.

Der geringe Wartungsaufwand war eines der Argumente, die für die Verwendung von PV für die gewünschte Beleuchtung sprachen. – Allerdings hatte Quitmann auch genug Zeit und einen offenen Blick, um die Ambivalenzen seiner Aktion zu reflektieren. Das betraf einerseits die technische Seite. War es überhaupt sinnvoll, den Wunsch nach abendlicher Beleuchtung ausgerechnet mit Photovoltaik zu erfüllen?

16.4.: „Einige [der Abendschul-Teilnehmerinnen] sagen, sie müssten so weit laufen zur Abendschule, ob wir nicht auch in anderen Orten sowas einrichten könnten – klar, mit einmalig 3000 Rupien für 2 der hellen Benzinlampen und vielleicht 1000 Rupien als Lehrergehalt ließe sich das machen. Wesentlich preiswerter als dieses Projekt hier. Mir kommen immer mehr Zweifel, ob das mit dem 24V-PV-System hier die beste Lösung war. Für mein Gefühl hätten es die hellen Benzinlampen ebenso getan. Auf die Dauer hoffe ich ja darauf, daß mal ein mechanisch-elektrisch begabter Mensch am Ort leben wird, der in der Lage ist ein kleines 20kW Wasserkraftwerk in Stand zu halten. Es ist doch verrückt, wenn hier geophysisch optimale Voraussetzungen für Wasserkraft existieren und wir installieren 320 W PV.

Glücklicherweise haben sich in den inzwischen vergangenen 22 Jahren die Kostenverhältnisse drastisch zugunsten der Photovoltaik verschoben; und auch mit Blick auf die nötige Dekarbonisierung würde man heute kaum noch für Benzinlampen optieren. Insofern ist der 1994 von Quitmann erbrachte Beweis, dass eine Off-Grid-Stromversorgung mit Photovoltaik funktioniert, als Pionierleistung durchaus verdienstvoll.

Viel schwieriger zu beurteilen ist die kulturelle Ambivalenz, die darin lag, Licht auf das Dach der Welt zu bringen.

5.4.: „Normalerweise ist hier um ½ 8 Totenstille, es ist im ganzen Tal stockfinster und alle sind zuhaus. So wird die Beleuchtung in den Räumen hier vermutlich schon etwas das Abendleben durcheinanderbringen. Eingriff in das soziale Leben – vertretbar?

Gewiss: Bildung ist ein hohes Gut und Voraussetzung, die eigenen Geschicke in die Hand zu nehmen. Aber ab einem gewissen Bildungsgrad ist es sehr schwierig, die jungen Leute zu veranlassen, in ihren Dörfern zu bleiben und sich der traditionellen Landwirtschaft zu widmen. Trägt dann die solare Elektrifizierung dazu bei, Gemeinschaften zu zerstören? Angesichts eines Diavortrags, den Quitmann nach seiner Rückkehr hielt, formulierte eine Aachener Tageszeitung: „Und warum brauchen sie Strom, wenn sie, wie der Referent vermittelte, soviel Ruhe und Zufriedenheit ausstrahlen?“ (3)

Am Ende ist es aber wohl noch viel paternalistischer, von Europa aus entscheiden zu wollen, was den Menschen in den „Entwicklungsländern“ gut tut und was nicht. Die Off-Grid-Photovoltaik eröffnet den Menschen die Chance, über ihren Weg selbst zu entscheiden – ohne dabei zur Gefährdung des Planeten beizutragen. Entscheidend ist im Falle des nepalesischen Lapsibot, dass die Frauen ihrerseits den Wunsch geäußert hatten, abendliche Alphabetisierungskurse einzurichten.
Gleichwohl versteht man die Notiz Quitmanns, die er nach zweiwöchigem Aufenthalt in Nepal niederschrieb:

11.4.: „Ich hoffe nicht, daß Nepal in 50 oder 100 Jahren so ist wie Deutschland.

 

Nachbemerkung

 

Zwei Jahre später, 1996, war Quitmann mit seiner damaligen Partnerin Christiane Gerhardus erneut in der Region. Die PV-Anlage funktionierte problemlos und die beleuchteten Räume wurden vielfach genutzt. Schwerpunkt der zweiten Reise war, weitere Fraueninitiativen anzuregen und den Fortgang der Baumaßnahmen an Schulgebäuden zu begutachten. Die Alphabetisierungskurse, Health-Camps und andere Maßnahmen wurden fortan mehr durch nepalische NGOs durchgeführt, und finanziell von der NHA getragen.

Nach Auskunft von Helmut Falter, dem stellvertretenden Vorsitzenden der ANH, funktionierte die PV-Anlage auch bei späteren Besuchen in Lapsibot, die Falter selbst durchführte. Die Anlage sei noch für mehrere Alphabetisierungskampagnen für Frauen, zuletzt aber vor allem zum Aufladen von Mobiltelefonen genutzt worden. Im Bürgerkrieg zwischen dem monarchischen System Nepals und einer maoistischen Guerilla, der von 1996 bis 2006 auch in der Region Gorkha tobte, hatte sie jedoch leichte Beschädigungen erlitten. (4) Das große Erdbeben vom 25. April 2015, das auch in Lapsibot schwere Verwüstungen angerichtet hat, dürfte die noch vorhandenen Teile zerstört haben.

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Die Schule von Lapsibot nach dem Erdbeben vom April 2015. Quelle: Aachener Nepalhilfe.

 

Die ANH hat auch nach dem Erdbeben Hilfe in Lapsibot geleistet. Eine andere dort tätige internationale Organisation, die „Empower Nepal Foundation“, berichtet über die Erdbebenschäden an der Schule in Lapsibot, dass unter anderem Solarmodule zerstört wurden. (5) Vermutlich handelt es sich dabei um die 1994 von Eckard Quitmann installierten Module. Falls die Bewohner Lapsibots es wünschen, wäre es vielleicht ein lohnendes Hilfs-Projekt, die zerstörte alte PV-Anlage durch eine modernere zu ersetzen? Schon 1996 gab es in Nepal Firmen, die den Eindruck machten, das technische Knowhow zu besitzen, um solche PV-Projekte selbst erfolgreich umzusetzen. Für die soziokulturelle Einbindung einer neuen PV-Anlage wäre dies ideal. Auch wenn ein Teil der Finanzierung aus dem Ausland kommen muss, sollte die Arbeit in Nepal und von Nepalis gemacht werden.

 

Nachweise

 

1 Vgl. zu diesem Gesamtkomplex unseren Beitrag aus dem Jahr 2013: Petra Hörstmann-Jungemann: Solare Energie für Afrika.

2 Alle Zitate, soweit nicht anders vermerkt, stammen aus dem handschriftlichen Tagebuch, das Eckard Quitmann von seiner Nepalreise anfertigte und das er mir dankenswerterweise zur Verfügung gestellt hat.

3 Aachener Nachrichten, 18.6.1994: Als „König“ auf dem Dach der Welt. Eine Glanztat der Nepalhilfe Aachen – TH-Student Quitmann brachte das Licht. Von Anja Schüring.

4 Persönliche Kommunikation des Autors mit Helmut Falter, 15.4.2016.

5 Facebook-Auftritt der „Empower Nepal Foundation“. Vgl. ferner www.nepalhilfe-aachen.de, wo Fotos des Ortes Lapsibot nach dem Erdbeben gezeigt werden; www.abari.org, wo im Zusammenhang mit einer Übergabe von Hilfsgütern an Bewohner von Lapsibot notiert wird: „Electricity: No electricity or phone connection. – We had a chat with some villagers who said they had electricity before given by a power house at machigaun but now as power house has been destroyed they are completely out of electricity.“ Außerdem wird dort als „Unmet Need“ verzeichnet: „Solar light“.