Die marktradikale Pressure Group INSM („Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“) hat aus Anlass des Grünen-Parteitages Mitte Juni 2021 eine ziemlich geschmacklose Anzeigenkampagne geschaltet, in der die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock als Moses mit den Gesetzestafeln dargestellt wurde. Die Schlagzeile lautete: „Grüne Verbote führen uns nicht ins Gelobte Land“. Für diese Aktion hat der Lobbyverband zu Recht kräftig Prügel bezogen, auch wenn der teilweise erhobene Vorwurf, die Aktion sei antisemitisch grundiert, mir nicht so recht einleuchtet: Man soll aus dem Antisemitismus-Vorwurf keine kleine Münze machen.

Man sollte sich vielmehr mit den Inhalten der Anzeige auseinandersetzen. Doch bevor das hier exemplarisch geschehen soll, eine kurze religionsgeschichtliche Replik. In einer versuchten Rechtfertigung des misslungenen Inserats wiederholt der Pressesprecher der INSM, Florian von Hennet, den Satz: „Verbote haben noch nie ins Gelobte Land geführt.“[1] Das heißt also, dass die biblische Exodus-Geschichte unsinnig wäre. In dieser bringt Mose die „zehn Gebote“ (bei denen es sich überwiegend um Verbote handelt), vom Berge Sinai zum Volk Israel, als Voraussetzung dafür, dass sie tatsächlich ins Gelobte Land (Kanaan) gelangen können. Die falsche Alternative hatten die Israeliten vorher ausprobiert: Es war der „Tanz um das Goldene Kalb“. Dieser hält nach biblischer Lehre davon ab, ins Gelobte Land zu kommen.

Das Goldene Kalb unserer Zeit ist der ungebremste Kapitalismus, für den die INSM steht. Insofern erscheint es folgerichtig, dass sie sich einen (weiblichen) Mose als Objekt für ihre Tiraden ausgesucht hat. Man kann sich auch denken, welche der echten mosaischen Gebote der INSM heute noch ein Dorn im Auge wären: Etwa der arbeitsfreie Sabbat-Tag (5. Gebot), der ja völlig konträr zum freien Spiel der Marktkräfte ist. Oder das Verbot, sich vor anderen Göttern niederzuwerfen (3. Gebot), was ja direkt gegen den „Markt“ der Neoliberalen gemünzt scheint. Oder die Präambel, nach der dieser „verbietende“ Gott Alleinverehrung beansprucht, weil er sein Volk aus dem „Sklavenhaus“ Ägypten befreit hat (1. Gebot). Denn die INSM prägte ja die Phrase „Sozial ist, was Arbeit schafft“[2]; und Arbeit hatten die Israeliten in Ägypten ja genug!

Das Verhältnis von Verboten und Freiheit ist offensichtlich schon immer komplexer gewesen, als die kapitalistische Schulweisheit sich träumen lässt. Tatsächlich gibt es keine menschliche Gesellschaft, in der nicht Verhalten verboten wäre, das als schädlich erkannt wird. In einer modernen Demokratie kann man darüber streiten, welches Verhalten schädlich ist und deshalb verboten gehört. Die ungebremste Aufheizung des globalen Klimas gehört ganz sicher dazu.
 

Wer ist die INSM?
 

Die turbokapitalistische Lobbyorganisation INSM wird von deutschen Arbeitgeberverbänden finanziert. Neben dem Kampf gegen Sozialpolitik ist seit langem die Bekämpfung der Energiewende ein Schwerpunkt ihrer Tätigkeit. Sie operiert dabei mit Behauptungen, die einem Faktencheck selten standhalten.[3] Schon 2013 lancierte sie eine Kampagne, wonach „die Kosten der Strompreise explodieren und die Energiewende scheitert, wenn ineffiziente Technologien staatlich subventioniert werden“.[4] Die Strompreise explodierten nicht; die bekämpften Technologien waren nicht ineffizient, und sie wurden auch nicht staatlich subventioniert – aber die Kampagne trug sehr dazu bei, dass die Bundesregierung das erfolgreiche EEG zunehmend verschlechterte und die Energiewende dadurch bremste.

In der Baerbock-Mose-Anzeige spitzt die INSM die an sich ja viel zu zurückhaltenden Forderungen des Grünen-Programmentwurfs in einer Weise zu, dass daraus eine rigorose Verbotspolitik wird. Das erste so dargestellte, vermeintliche grüne „Verbot“ lautet beispielsweise: „Du darfst kein Verbrenner-Auto fahren.“ Nun stand im Grünen-Programmentwurf, dass Autos mit Verbrennungsmotor ab 2030 nicht mehr zugelassen werden sollen. Das heißt: noch neun Jahre lang sollen neue Benzin- und Diesel-PKWs auf die Straße gelassen werden, von der bestehenden zig-Millionen-Flotte ganz zu schweigen. Wie man das zu einer radikalen Verbotspolitik umdefinieren kann, bleibt das Geheimnis der INSM. Um es klar zu sagen: Wenn wir ein solches Zulassungsverbot sinnvollerweise für 2025 fordern, dann ist auch dies ein schmerzlicher Kompromiss zwischen dem, was eigentlich notwendig wäre (sofortiger Stopp der Emission von Treibhausgasen), und dem Ziel, der Automobilindustrie eine, wenn auch knappe, Zeit zur, wenn auch radikalen, Umstellung ihrer Produktion zu gewähren.

Einer Industrie, die seit mehr als zwanzig Jahren weiß, wie klimaschädlich und zerstörerisch ihr Geschäftsmodell, und wie ineffizient ihr Herzstück, der Verbrennungsmotor, verglichen mit elektrischen Antrieben, ist. Sie hat nichts getan, um sich aus eigenen Stücken auf die nötigen Änderungen vorzubereiten. Sie hat alles torpediert, was auch nur auf eine Verringerung der Emissionen zielte. Nun ist der Karren fast schon gegen die Wand gekracht, und noch immer weigert sich diese Industrie, das Wort „Bremse“ auch nur in den Mund zu nehmen. Eines ihrer wichtigsten Sprachrohre: die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“.

So funktioniert die ‚Argumentation‘ auch bei den anderen angeblichen grünen „Verboten“. Nehmen wir nur ein weiteres Beispiel. Als 3. „Verbot“ der Grünen postuliert die INSM: „Du darfst nicht am Freihandel teilnehmen.“ Und setzt ihre eigene Sichtweise wie folgt dagegen: „Warum sollten wir an nationalen Grenzen aufhören, die Vorteile von Spezialisierung zu nutzen? […] Vor allem im Hinblick auf globale Herausforderungen braucht es internationale Verträge. Diese sollten nicht aufgrund weniger Unstimmigkeiten abgelehnt werden. Freihandel bedeutet Wohlstand und bringt die Welt näher zusammen.“ Wenige Unstimmigkeiten; nun ja. Kein Wort darüber, dass private Schiedsgerichte soziale und Umweltgesetze der beteiligten Staaten aushebeln dürfen. Kein Wort darüber, dass die „Spezialisierung“ von Ländern des globalen Südens darin besteht, ungehemmter ausgebeutet zu werden. Kein Wort über die Zerstörung des Amazonas-Regenwaldes, über Soja-Plantagen als Voraussetzung für unsere quälerische Massentierhaltung. Kein Wort über Schweröl verfeuernde Frachtschiffe und kerosinschluckende Frachtflugzeuge, die uns nachts den Schlaf rauben. „Freihandel bedeutet Wohlstand“ – ja, für einige; zufällig organisieren die sich in der INSM.

Aber den Grünen wird wiederum zu viel der Ehre angetan. Ihr Programmentwurf lehnt keine Handelsverträge ab, sondern postuliert lediglich: „Europäische Handelsverträge müssen verbindliche und durchsetzbare Umwelt- und Sozialstandards enthalten.“ Mercosur wird deshalb abgelehnt, aber zu CETA heißt es, man wolle diesen europäisch-kanadischen Vertrag „in seiner derzeitigen Fassung nicht ratifizieren, sondern es bei der Anwendung der derzeit geltenden Teile belassen“.[5]
 

Erst der Anfang ihres Tuns
 

Diese schamlose Verdrehung der Tatsachen und diese bodenlose Absenkung der moralischen Standards in der politischen Auseinandersetzung muss man angesichts der gewiss noch folgenden INSM-Kampagnen im laufenden Wahlkampf gut im Gedächtnis behalten.

Die INSM ist für Deutschland das, was in den USA das „Heartland Institute“ und ähnlich Thinktanks sind: eine Kampforganisation des Kapitals zur Verhinderung sinnvoller Politik.[6] Der US-Vergleich drängt sich auch im Hinblick auf den politischen Stil auf. So spricht der „Spiegel“ angesichts der jüngsten INSM-Entgleisung von einem „mit großen Mitteln finanzierten Schlammschlachtwahlkampf nach US-Vorbild“.[7] Jegliches staatliche Handeln, das die Freiheit ‘der Märkte’ zähmen will, wird als freiheitsgefährdend gebrandmarkt. Ziel ist das ungehemmte Agieren mächtiger wirtschaftlicher Player – auf Kosten der Freiheiten aller anderen. Es ist die Forcierung einer Politik, welche die Klimakatastrophe zu allererst herbeigeführt hat und die zugleich blind für sie ist; einer Politik, die Finanzcrashs produziert und dann nach dem so eifrig bekämpften Staat ruft, um mit hunderten von Milliarden gerettet zu werden.

Etliche Millionen davon sind am Ende wohl bei der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ gelandet. Sie wird sicherlich einige hundertmal so viel Geld in die Hand nehmen können wie der SFV, um Einfluss auf die Bundestagswahl zu nehmen. Wir sollten dies mit dem Engagement der Vielen ausgleichen. Denn es geht um etwas, das die Marktradikalen überhaupt nicht in den Blick bekommen können: die Bewohnbarkeit des Planeten in ein, zwei Generationen. Das Goldene Kalb mag glänzend anzuschauen sein, aber es hat noch nie ins Gelobte Land geführt.

 

 

[1]             https://www.insm.de/insm/presse/pressemeldungen/soziale-marktwirtschaft-braucht-kreativen-wettbewerb-statt-uebergriffiger-verbote

[2]             https://de.wikipedia.org/wiki/Initiative_Neue_Soziale_Marktwirtschaft

[3]             Vgl. https://www.volker-quaschning.de/artikel/Fakten-INSM/index.php, auch abgedruckt im Solarbrief 2/2019, S. 6-10.

[4]             https://lobbypedia.de/wiki/Kampagne_der_INSM_und_des_RWI_gegen_die_F%C3%B6rderung_des_%C3%96kostroms

[5]             https://cms.gruene.de/uploads/documents/2021_Wahlprogrammentwurf.pdf

[6]             https://sfv.de/freiheit-welche-freiheit

[7]             https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/insm-kampagne-gegen-annalena-baerbock-die-hemmungslose-lobbyarbeit-der-reichen-im-wahlkampf-a-c6e17012-1117-47f7-af2f-d1cec5c2bbe5

Foto: CC BY-ND 2.0 INSM