Der Wind pfeift durch den Schornstein, laut, rauschend, fast beängstigend, doch sie beachtet ihn nicht. Wie immer ist sie morgens die Erste, bereitet das Frühstück für die Kinder, schaltet das Radio ein - erschrickt- "Achtung, Achtung, Verlassen Sie Ihre Wohnung nicht, Orkan Viktoria fegt mit 200 km/h über Deutschland hinweg. Achtung, beim Verlassen des Hauses besteht Lebensgefahr! Der Orkan ..." Sie kann das Gerede des Nachrichtensprechers nicht mehr hören, kennt es nur zu gut, weiß wie gefährlich diese Stürme sind, welche Vorsichtsmaßnahmen sie zu treffen hat, dass dies wohl nur der Anfang des Sturmes ist und die Kinder für ein paar Tage nicht in die Schule müssen.

Wie viele Stürme hatte es in den letzten Jahren gegeben, wie oft die Angst sie geplagt? Sie weiß es nicht mehr, hat aufgehört zu zählen. Die Fensterläden klappern. Ein kurzer Blick genügt ihr um festzustellen, dass sie richtig geschlossen sind, es besteht also keine Gefahr. Regungslos lehnt die Mutter am Fenster, starrt durch einen Spalt im Fensterladen hinaus in die Dunkelheit. Sie überlegt wie es war, als man nicht ständig Angst hatte, die Angst nicht immer wie ein riesiger, schwarzer Schatten, der sie fast zu erdrücken scheint, über ihr lastete. Angst, es gibt so vieles vor dem man in diesen Zeiten Angst haben kann. Angst, das Haus oder gar die Kinder, bei einem Sturm, (oder) einer Überschwemmung zu verlieren. Angst vor den Dürren mit denen die Sorge um das Lebensnotwendigste, Wasser und Nahrung, beginnt. Angst, dass der Krieg, der in fernen Ländern tobt schnell auch bei ihnen sein konnte. Angst vor der Arbeitslosigkeit, dem Verlust der Existenz. Seit immer mehr Gebiete, die in ihrer Jugend noch festes Land gewesen waren im Meer versanken, die Wüstengebiete sich immer weiter ausdehnten und so die Flüchtlingsströme nicht mehr abrissen, war es schwer eine gute Arbeit zu finden. Sie hat Glück als Sekretärin gerade genug zu verdienen um sich und die Kinder durchzubringen, ihr kleines Häuschen, dessen Obergeschoß sie vermietet, halten zu können.
Ihr Mann ist schon lange ausgezogen. Als er seine Arbeit verlor, die Lebensbedingungen sich immer mehr verschlechterten, sah er keinen Sinn mehr im Leben, begann zu trinken und zerstörte nun sein Leben wirklich. "Wir haben unsere Lebensgrundlagen zerstört, was macht es da schon für einen Unterschied?" schrie er, wenn sie ihm Vorwürfe machte. Er hatte ja Recht. Die Lebensgrundlagen waren teilweise zerstört. Immer mehr begann der Kampf ums Überleben. Aber er konnte doch nicht einfach aufgeben! Was konnte sie denn dafür, sie hätte doch alleine eh nichts ändern können! Und was machte er? Er ließ sie alleine, alleine mit zwei Kindern. Jetzt musste sie von früh bis spät arbeiten um wenigstens das Nötigste an Geld zu haben, und ganz nebenbei musste sie auch noch die Kinder erziehen. Wie sollte sie das schaffen? Wie konnte er nur?!

"Mama! Mama!" jäh wird sie aus ihren Gedanken gerissen. Sie eilt ins Schlafzimmer der Kinder "Mensch Susi was ist denn los?" "Mama, Mama ein Gespenst klopft gegen das Fenster!" Susi ist den Tränen nahe. Ihr Bruder Max ruft genervt: "Jetzt sei doch endlich einmal still, das ist der Wind du kleines Dummerle, musst du immer so albern sein? Und jetzt lass mich schlafen, ich bin müde!" "Max hör auf deine Schwester so anzuschreien, sie ist schließlich viel jünger als du! Ach Susi, es gibt doch gar keine Gespenster, das ist nur der Sturm, komm erst einmal mit in die Küche und trinke eine heiße Schokolade, das wird dich aufmuntern."
"Ach heute ist wohl wieder sturmfrei." meint Max, dessen Blick auf die Uhr im Kinderzimmer fällt. "Du hast es erfasst" seufzte seine Mutter. "Jipie! Ich muss nicht in die Schule!" schreit Susi während sie auf ihrem Bett springend einen Freudentanz aufführt. Die Mutter lächelt matt, ihre kleine Tochter scheint ihre Angst schon wieder vergessen zu haben. Doch in letzter Zeit fällt der Unterricht so häufig aus, wie sollen denn da die Kinder vernünftig lernen? Sicher, sie lernen zu Hause, schließlich muss das Leben weitergehen, auch wenn das Haus nicht verlassen werden darf, doch das ist nicht dasselbe. Es fehlt ihr so oft an Zeit und Kraft die Beiden ständig zum Lernen zu ermuntern und ihnen dabei zu helfen, schließlich hat sie selber so viel zu tun, muss auch so die halbe Nacht durcharbeiten.
Es ist immer dasselbe, jene Tage, eingesperrt im Haus, abgeschnitten von der Welt zerren an ihren Kräften. Sie hat kaum einen Moment Ruhe, es gibt in ihrer kleinen Zweizimmerwohnung keine Tür die sie einfach hinter sich schließen könnte, ständig wird sie beansprucht, von ihren Kindern, dem Haushalt, der Arbeit. Wie wird es wohl diesmal werden? Wie lange werden sie gezwungen sein ihre winzige Wohnung nicht zu verlassen? Mit einem Ruck erhebt sie sich von Susis Bettkante, sie hat jetzt keine Zeit zu grübeln, muss den Alltag bewältigen.

Ein ohrenbetäubendes Krachen unterbricht die Ruhe am Frühstückstisch, da ist wohl ein großer Ast oder ein Ziegel zu Boden gestürzt. Susi schaut auf, das laute Geräusch erinnert sie, dass gerade ein heftiger Sturm tobt. "Wie heißt der Sturm eigentlich diesmal?" fragt sie, "Viktoria" lautet die gleichgültige Antwort der Mutter. Für sie ist der Name des Unwetters unwichtig, der Name ändert schließlich nichts an dessen zerstörerischen Macht, sie hat schon so viele Stürme erlebt, und jeder brachte neue Probleme mit sich, wozu da auf die Namen achten? "Mama, wer will eigentlich denselben Namen haben wie ein Sturm? Ich meine, er zerstört doch so viel, muss es da nicht schrecklich sein, genauso zu heißen wie er?" Die Mutter schaut sie verwundert an, zuckt mit den Schultern, darüber hat sie noch nie nachgedacht. Aber wenn sie es sich so überlegt, Susi hat Recht, alle Menschen fürchten die Stürme, und dann gibt es Menschen, die genauso heißen wie diese grausamen Unwetter, eine seltsame Vorstellung.
Ihr Blick fällt auf ihren Sohn. Max scheint mit den Gedanken weit weg. Was er jetzt wohl denkt? Er ist ihr in letzter Zeit fremd geworden, er ist so nachdenklich, so verschlossen, und dann wieder so aufbrausend, die Sorgen dieser Zeit haben ihn erwachsen gemacht. Oft sitzt er so da, wie er es auch jetzt tut, bekommt nichts um sich herum mit, den Blick hat er irgendwo ins Leere gerichtet, mit den Gedanken ist er meilenweit entfernt. Ohne wirklich aufzuschauen murmelt er: "Viktoria, die Siegerin! Na, der Name passt! Unterdrückt und straft nicht jeder Sturm seine Opfer, so wie es auch Sieger tun, hat er nicht auch deren Macht?" Wie Recht er hat. Gäbe es doch bloß all jene Stürme nicht, wäre nur all dieses Leid nicht gegenwärtig. Wie schön wäre das Leben, wenn noch alles so wäre wie in ihrer Jugend, damals hatte sie kaum Sorgen, konnte mit ihren Freundinnen feiern, Ausflüge machen, in den Urlaub fahren. Wie lange sie all das nicht mehr getan hatte. Ach war das schön damals.

"Mama, Mama du hörst mir gar nicht zu!" ruft Susi ihre Mutter plötzlich in die Gegenwart zurück, "Ist ja gut, was ist den los?" fragt sie seufzend. Ganz aufgeregt antwortet das kleine Mädchen: "Mama, Mama, ich habe die Tage gezählt, heute ist ein toller Tag, Lisa feiert doch heute Geburtstag, und sie hat mich eingeladen, stell dir das mal vor, endlich darf ich auch einmal zu einer Geburtstagsfeier! Ist das nicht herrlich? Wir werden Kuchen essen und zusammen spielen, und ..." Oh nein, was soll sie bloß machen, Susi hat sich so gefreut, schon seit Tagen hat sie ständig von Lisas Feier geredet. Und jetzt hat sie vor Freude einfach vergessen das sie nicht raus kann, wie um Himmelswillen soll sie ihr das beibringen? Stockend unterbricht sie den Redefluss der Tochter, "Susi, du vergisst, ... " "und wir werden singen, Mama das wird bestimmt ..." die Kleine will nicht zuhören, ihren Traum nicht zerstört sehen, redet einfach weiter, merkt nicht einmal wie verzweifelt die Mutter nach Worten ringt, "Susi, jetzt hör mir gefälligst zu! Es ist doch Sturm, wir können nicht aus dem Haus, das wäre Lebensgefährlich, aber Lisa wird ihre Geburtstagsfeier bestimmt nachholen".
Sie weiß genau, wie hart diese Worte für ihre Tochter sein müssen, sieht die Enttäuschung in Susis Gesicht. Sie senkt den Kopf, es tut ihr Leid, doch sie kann es nicht ändern. Was würde sie jetzt nicht alles geben um Susi diesen Wunsch zu erfüllen, um ihr kleines Gesicht vor Freude und Glück strahlen zu sehen. Doch jetzt kann kein Mensch mehr etwas gegen diese Naturkatastrophen tun, die das Leben so schwer machen. Statt dessen sieht sie ihre kleine Tochter weinend da stehen. Für Susi scheint eine Welt unter zu gehen. "Mama, ich will aber, ich muss zu Lisa, sie wird auf mich warten und ohne mich feiern. Mama! Ich hasse den Sturm, ich will zu Lisa! Wenn ich nicht komme, dann ist sie nicht mehr meine Freundin, hat sie gesagt. Mama." weint Susi in den Armen der Mutter. Diese meint zu spüren wie es ihr das Herz beim Anblick der kleinen Susi zerreißt.
Als sie jung war, hätte etwas getan werden müssen und all das Unglück wäre nicht geschehen, aber diejenigen, die dazu die Macht gehabt hätten, taten nichts. Warum? Warum konnte all dieses Leid nicht verhindert werden? Sie betrachtet das kleine Wesen in ihren Armen, sieht, wie Susi das Gesicht unter Weinen verzieht, langsam schweifen die Gedanken der Mutter ab, bleiben in vergangenen Tagen hängen. Sie merkt kaum, das Susi sich die Tränen aus den Augen wischt und in den Flur läuft.
Plötzlich dringen die Geräusche des Sturmes, das Heulen des Windes, das Klappern irgendwelcher loser Gegenstände, das Knacken der Äste, laut zu ihr herein, dann wird das Haus durch einen Knall erschüttert und es ist wieder still. Die Mutter springt auf, was war das? Die Haustüre! Susi, oh Gott! Die Mutter rennt zur Tür, reißt sie auf, sieht wie ihre Tochter gegen den Wind kämpft, hört ihren Hilfeschrei, sieht sie, der Kraft des Sturmes nicht gewachsen, stürzen. Mit aller Kraft kämpft sich die Mutter zu ihrer Tochter, nimmt sie auf den Arm, trägt sie zum Haus zurück. Geschafft! Sie sind in Sicherheit. Dort, wo eben noch ihre Tochter lag, stürzt jetzt ein Ziegel zu Boden, ihr bleibt fast das Herz stehen, Tränen laufen ihre Wangen hinab, wenn Susi nun gestorben wäre! Nein, sie will gar nicht daran denken, schließt schleunigst die Tür hinter sich, verbarrikadiert sie, lässt sich auf einen Stuhl im Wohnzimmer fallen, sitzt regungslos mit ihrem Kind im Arm da und weint. Was nicht alles hätte geschehen können.
Mit neuer Deutlichkeit wird ihr wieder einmal bewusst, welch zerstörerische Kraft diese Naturkatastrophen haben, welches Glück es alleine ist, dass sie alle noch am Leben sind. Früher hatte sie die Angst vor Naturkatastrophen überhaupt nicht gekannt, jetzt ist sie allgegenwärtig. Sie seufzt tief und flüstert leise: "Früher war das Leben doch so viel einfacher, warum konnte es nicht einfach so bleiben?"

"Die Antwort kann ich dir gerne geben," meint Max bissig, der den Seufzer der Mutter hört und von seinen Schularbeiten aufschaut, "weil ihr es versäumt habt etwas dagegen zu tun. Nur ihr hättet es verhindern können, ihr seid doch selber schuld an dieser verdammten Klimaerwärmung!" "Das ist nicht wahr! Ich wusste doch überhaupt nicht, dass diese Katastrophe kommen würde!" "Du wusstest es nicht? Das kannst du sonst wem erzählen, es war in deiner Jugend doch schon eindeutig! Du wolltest es nicht wissen, gib es zu! Das wäre dir zu unbequem gewesen. Wenn du es dir eingestanden hättest, dann hättest du ja dein Leben verändern müssen! Wie umständlich! Wie kann man nur so blind sein?" "Meine Güte, ich war jung, wollte leben, lachen, lieben, glücklich sein!" "Du wolltest wohl alles, bloß nicht die Zukunft sichern, dir war es doch egal welche Probleme deine Kinder eines Tages haben, du hast doch keinen Gedanken daran verschwendet, das wir, deine Kinder, jetzt in ein Leben ohne jede Zukunft blicken! Was hat es dich interessiert welche Ängste wir heute ausstehen müssen!? Hast du vielleicht vergessen, dass ich auch jung bin? Ist es denn so schwer zu verstehen, dass ich auch leben, lachen und glücklich sein will? Doch wie soll ich das, bei meinen Aussichten, hättest du nicht verdammt noch mal daran denken können?! Du bist so egoistisch!" "Aber, ich wollte doch nicht, ich wusste doch gar nicht... Was,... was hätte ich denn alleine bitte schön tun können? Man kann doch nicht alleine die Welt verändern!" "Du hättest ja nicht gleich alleine die ganze Welt retten sollen! Aber wenn niemand etwas tut, wie soll denn dann jemals etwas geschehen? Klar hätten alle etwas tun sollen, aber zu allen gehörst eben auch du!" "Aber die Anderen haben doch auch nichts getan, die Mächtigen, die sind doch schuld, die haben doch auch nichts getan, und sie hätten doch anfangen sollen! Warum beschuldigst du mich?" "Weil du nichts getan hast, obwohl du es gekonnt hättest! Du seufzt immer wie schön und sorglos deine Jugend war, haben wir nicht genauso ein Recht darauf? Du bist die letzte die ein Recht hat zu seufzen, schließlich bist du schuld und nicht wir!" Max springt voller Wut auf, will aus dem Haus rennen, als ihm der Sturm einfällt zieht er es dann aber vor, die Kinderzimmertür hinter sich zuzuschlagen und dröhnende Musik anzuschalten.
Die Mutter bleibt im Wohnzimmer zurück, den Kopf hat sie gesenkt, in ihren Augen glitzert es verdächtig, die Worte ihres Sohnes haben sie schwer getroffen. Aber sie ist doch nicht schuld, sie war doch noch so jung, da hätte sie doch wirklich nichts tun können, oder doch? Wenn sie gewusst hätte, wie schlimm es wird, dann hätte sie sicher etwas getan, aber sie wusste es einfach nicht, und unter dem, was sie wusste, konnte sie sich nichts vorstellen. Es sind doch andere schuld, diejenigen, die wirklich etwas hätten tun können, sind nicht die schuld? Sie hat doch einfach nur das getan, was alle getan haben, wer kann ihr das denn vorwerfen?
Die Mutter denkt an ihren Sohn, verachtet er sie, weil sie sein Leben zerstört hat? Aber wenn sie damals etwas getan hätte, es würde ihm doch heute auch nicht besser gehen, das was sie als Einzelne hätte tun können, hätte doch eh nichts verändert. Was ging in ihrem Sohn vor? Manchmal hatte sie das Gefühl, er schämte sich für sie, schämte sich, nicht wenigstens sagen zu können, seine Mutter hätte getan was sie konnte und vielleicht wenigstens ein klein wenig eine noch größere Katastrophe verhindert. Seine Worte hatten getroffen, wie Messerstiche war jedes einzelne in ihr Herz gedrungen. Sie kann nicht anders, ruft ihn sich in Erinnerung, wie er da gesessen hatte, sie sieht noch einmal die Ausweglosigkeit, die Verzweiflung, die Wut in seinem Blick, und wieder spürt sie einen tiefen Stich. Sein Vorwurf schmerzt so sehr. Es tut weh, das eigene Kind derart leiden zu sehen. Warum nur kann seine Jugend nicht ebenso unbeschwert sein, wie es die ihrige einst war? Ist sie wirklich schuld daran, so wie er es meint? Langsam tropfen ihr Tränen die Wangen hinab.

"Mama, Mama du weinst ja." hört sie plötzlich eine zarte Stimme, Susi, die sich den ganzen Streit über in die Arme der Mutter gekuschelt hat und auch bis jetzt es nicht gewagt hatte sich zu rühren, richtet sich langsam auf. Die Mutter sieht das kleine Mädchen auf ihrem Schoß an und lächelt, "Ach Susi, ich hab dich lieb" flüstert sie. "Magst du nicht ein wenig spielen? Ich muss noch ganz viel für die Arbeit tun." meint die Mutter zu Susi und setzt sich seufzend vor den Computer. Sie beobachtet aus den Augenwinkeln, wie ihre Tochter ihre Puppen holt und zu spielen beginnt. Wie schön es doch ist Susis friedliches Spiel zu beobachten, wie schnell das kleine Mädchen zu vergessen scheint, wie glücklich sie wirkt, wie wenig sie von der Welt weiß, wie wenig sie von den Schwierigkeiten des Lebens ahnt. Das kleine Wesen, das dort am Boden sitzt, spielt und den Sturm nicht beachtet, das noch an das Gute in dieser Welt glaubt, es gibt ihr Kraft ihr eigenes Leben zu bestreiten, nicht unter den Lasten zusammen zu brechen. Sie spürt, dieses Kind braucht sie, aber auch sie braucht die Kleine. Doch sie muss weiter arbeiten, zwingt sich, ihre Konzentration auf die Arbeit zu lenken, immer wieder schweifen ihre Gedanken ab. Der Wind pfeift durch eine undichte Stelle am Fenster. Doch sie ist es schon gewöhnt, blickt nur kurz hinüber, tippt dann eifrig weiter, sie muss mit der Arbeit fertig werden, sonst wird ihr bald das Geld fehlen um ihre Familie zu ernähren.
"PPPPPPPFFFFFFFFFF SCHSCHSCH, PENG", hört sie ihre spielende Tochter. Sie schaut auf, sieht Susi ihre Puppen durcheinander werfen und andere Spielsachen mit voller Wucht darauf knallen. "Susi, was machst du denn da!" ruft sie "Ich spiele Sturm" entgegnet diese, "und jetzt sind die Puppen alle tot, der Wind hat Ziegel und Äste auf sie geworfen und sie erschlagen". Oh nein, welche Auswirkungen hatte diese ständige Angst nur auf ihre Tochter, sie sollte doch nicht ihre Puppen umbringen. "Schau mal, da kommt der Krankenwagen, der rettet den Puppen jetzt das Leben" meint sie zu Susi "OK, dann kommen die Puppen jetzt ins Krankenhaus" geht Susi darauf ein und spielt jetzt Ärztin. Die Mutter arbeitet weiter, ist aber kaum fähig sich zu konzentrieren. Ständig gleitet ihr Blick zu ihrer Tochter, vielleicht hat sie den Sturm doch nicht vergessen, versucht sie die Schrecken von vorhin, als der Ziegel sie fast erschlug, zu verarbeiten? Hat das kleine Mädchen Angst vor dem Sturm oder versteht sie noch nicht, was er bewirkt? Jetzt scheint sie ihn wieder vergessen zu haben, spielt ganz ruhig am Boden. Die Mutter fragt sich wie weit diese Angst vor Stürmen, Überschwemmungen, Dürren und wovor sie sich sonst noch alles fürchtet, für Susi schon zur Gewohnheit geworden ist? Ihre Tochter kennt es ja eigentlich nicht anders. Sie beginnt wieder zu arbeiten, weiß nicht wie sie fertig werden soll.

Als sie auf die Uhr sieht ist es schon spät, Susi muss ins Bett. Langsam erhebt sie sich von ihrem Schreibtisch im Wohnzimmer. Eigentlich will sie sich nicht auf eine Diskussion mit Max einlassen, aber noch immer hört er im gemeinsamem Zimmer der Kinder laut Musik. Es wird ihm nicht gefallen den Abend, wie immer, mit ihr im Wohnzimmer verbringen zu müssen. Sie weiß ja, dass er gerne ein eigenes Zimmer hätte, aber sie haben nun einmal keinen Platz in der winzigen Wohnung. Sie geht zur Kinderzimmertür, bleibt stehen, hat nicht die Kraft ihren Sohn aus seinem Zimmer zu werfen. Sie weiß, er wird sie wieder mit Vorwürfen bombardieren, sie erneut anklagen. Sie spürt, dass sie seinen Anschuldschuldigungen nicht standhalten wird, lässt die Hand, zum Öffnen der Tür bereits erhoben, sinken.
Dann wird Susi diese Nacht eben bei ihr im Wohnzimmer schlafen. Hoffentlich stört das Klappern der Tastatur das kleine Mädchen nicht im Schlaf. "Susi, hast du Lust heute bei mir im Wohnzimmer zu schlafen?" "Ja! Liest du mir noch ein Märchen vor? Bitte!" die Mutter betrachtet das kleine Mädchen, sieht deren erwartungsvoll leuchtenden Augen. Eigentlich hat sie keine Zeit, weiß nicht wie sie mit ihrer Arbeit fertig werden soll, und dennoch willigt sie ein. Lisa blättert im Märchenbuch aus Mutters Kindheit, "Mama, liest du mir "Die Schneekönigin" vor?" meint sie nach einer Weile. Die Mutter beginnt, leise beschwört sie vor die Augen des Kindes eine märchenhafte Szene. Plötzlich unterbricht Susi sie "Mama was ist eigentlich Schnee?" der Mutter wird bewusst, dass ihre Tochter noch nie Schnee gesehen hat. Wie lange ist es eigentlich her, dass es das letzte mal geschneit hat? In Gedanken reist sie Jahre zurück, damals verzauberte Schnee noch fast jeden Winter die Landschaft, auch wenn er schon damals bedeutend seltener fiel. Sie erinnert sich noch genau, welchen Spaß es immer machte Schlitten zu fahren, Schneemänner zu bauen, Schneeballschlachten zu veranstalten. Sie verbindet mit ihm so viele wundervolle Erinnerungen. Doch wie soll sie das Susi erklären? Während sie noch darüber nachdenkt wie sie es dem kleinen Mädchen begreiflich machen kann, schläft dieses seelenruhig ein. Eine Weile noch sitzt die Mutter am Bett, betrachtet das Kind neben sich und träumt von längst vergangenen Zeiten.

Doch die Arbeit ruft, sie muss weiter machen, kann es sich nicht erlauben zu ruhen. Wieder setzt sie sich an ihren Schreibtisch, und arbeitet weiter. Weit nach Mitternacht als sie Mühe hat ihre Augen noch offen zu halten, gesteht sie es sich endlich zu ins Bett zu gehen, obwohl sie noch lange nicht fertig ist. Sie quetscht sich neben ihrer Tochter ins Bett, schließt die Augen, denkt daran wie Susi aus dem Haus gerannt ist, was alles hätte passieren können, wäre sie nur wenige Augenblicke später dort gewesen, vielleicht wäre ihre Tochter jetzt nicht mehr am Leben. Wieder spürt sie die Angst ihre Kinder zu verlieren. Was werden die kommenden Tage wohl noch mit sich bringen? Wird ihnen das Essen reichen?
Noch einmal zieht der Tag an ihr vorbei, wieder sieht sie ihren Streit mit Max vor sich. "Du bist schuld" echot es in ihrem Kopf, aber sie hatte es doch nicht gewollt. Hätte sie denn etwas tun können? Sie denkt zurück an ihre Jugend, ja, sie hätte etwas tun können, aber hätte das wirklich etwas verändert, war nicht damals das Schicksal der Menschheit schon entschieden gewesen? Naja, wenn die Anderen auch etwas getan hätten, dann hätte es etwas gebracht. In ihrem Inneren schreit Max´ Stimme: "Du hast mein Leben zerstört, du bist schuld!" das Geschrei in ihrem Inneren lässt sich nicht stoppen. Sie beginnt zu weinen, der Tränenstrom wird immer stärker. Ist sie wirklich schuld? Sie schluchzt vor sich hin, eine kleine Hand streichelt über ihren Kopf, "Mama, was ist denn los?". Die Mutter nimmt ihre Tochter in den Arm, flüstert: "Ach Susi. Das Leben ist so kompliziert. Ich weiß gar nicht mehr was ich tun soll. Max´ Vorwürfe, sie sind so schwer, aber das verstehst du noch nicht". "Mama", beginnt Susi vorsichtig, "was meint Max wenn er sagt du bist schuld?" "Er meint, ich hätte es ändern können, hätte etwas dagegen tun können, dass das Klima so verrückt spielt, dass es all diese Stürme, Überschwemmungen, all dieses Leid gibt". Sie fragt sich, warum sie Susi all das eigentlich erzählt, die Kleine versteht es doch eh nicht, aber sie muss reden, kann ihre Zweifel nicht länger in sich hineinfressen. Ihre Tochter schaut sie aufmerksam aus großen, dunklen Augen an. "Mama, stimmt das? Bist du schuld?" die Mutter seufzt, wie soll sie das nur Susi erklären, wo sie es doch selbst nicht so ganz versteht.
"Weißt du Susi, Schuld, das ist ein großes Wort, vor allem in unserer Zeit, es ist mit der Schuld nicht so einfach. Wenn jemand eine teure Vase absichtlich auf den Boden wirft, dann ist es klar, dass er daran schuld ist, wenn diese kaputt geht. Doch wie ist es, wenn die Vase nicht von einem alleine gehalten wird, sondern ganz viele, jeweils mit einem Finger die Vase halten? Irgendwann beginnt einer zu ahnen, dass es nicht gut gehen wird. Er versucht die Anderen zu warnen, doch sie glauben ihm nicht. Dann gleitet die Vase ihnen wirklich aus der Hand und stürzt Richtung Boden. Die Leute, die außen herum stehen und zuvor die Vase gehalten haben, könnten sie vielleicht noch auffangen, die meisten bleiben aber einfach stehen, tun nichts. Manche von ihnen strecken vielleicht die Hand aus, erreichen die Vase aber nicht, einige bücken sich vielleicht auch, und einige wenige machen vielleicht einen Hechtsprung, auch wenn sie sich dabei ein wenig stoßen, doch auch diese schaffen es letzten Endes nur das Zerbrechen der Vase um den Bruchteil einer Sekunde zu verzögern. Dann gleitet sie auch ihnen aus der Hand. Die Vase wäre vielleicht aufzufangen gewesen wenn sie sich alle gebückt hätten und sich gemeinsam bemüht hätten sie zu retten. Doch das geschah nicht, sie stürzt zu Boden und zerbricht. Doch wer ist jetzt schuld? Bei der Sache, über die dein Bruder und ich gestritten haben, ist es noch so viel schwieriger, weil sie komplexer, verstrickter ist. Ja, vielleicht hat Max ein bisschen recht, irgendwie bin ich ein wenig schuld, so wie viele in meiner Generation Schuld haben, denn viele haben nichts getan und die Vase zerbrechen lassen". Die Mutter merkt, Susi hat nicht viel von dem, was sie gesagt hat verstanden, doch sie selbst ist jetzt ruhiger geworden, es hat ihr gut getan zu sprechen.

 

*) In dieser Reihe möchte der SFV jungen Autoren die Möglichkeit geben, sich in Kurzgeschichten zum Thema Energiewende zu äußern.
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Ein Anrecht auf Veröffentlichung besteht nicht.