Datum: 04.12.04 überarbeitet am 09.12.04

Psychologie der "Wirtschaftsreformen"

Bedeutungswandel der Begriffe erschwert öffentliche Argumentation

Wolf von Fabeck

Die Einkommens- und Vermögensverteilung verschiebt sich: Die Zahl der Reichen und Superreichen nimmt zu, während immer größere Teile des Mittelstandes in die soziale Unterschicht absinken. Menschen, die noch Arbeit haben, werden durch Angst um den Arbeitsplatz in ihrer Gegenwehr gelähmt.

Das Wort in der politischen Diskussion führen die Unternehmerverbände. Warum ihre Argumente beim breiten Publikum - und sogar bei den Betroffenen selbst - Gehör finden, darum soll es heute gehen.

Als schlimmste Geißel wird derzeit die Arbeitslosigkeit empfunden. So kann es sogar geschehen, dass mit der Parole: "Sozial ist, was Arbeit schafft", mühsam errungene Schutzrechte der Arbeitnehmer wieder rückgängig gemacht werden und die Ungleichverteilung der Einkommen verschärft wird, doch dies ist nicht der Weg, auf dem eine Verbesserung der Verhältnisse erreicht werden kann.

Dem Widerstand gegen die sogenannten Reformen fehlen die Argumente. Die Betroffenen versäumen es, sich gegen wohlklingende Forderungen zur Wehr zu setzen, deren guter Klang noch aus den Zeiten des Wiederaufbaus nach dem Krieg stammt, die aber unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen zur Verschlimmerung der Verhältnisse führen: "Wachstum", "Arbeitsproduktivität", "Billige Energie".

Den meisten Betroffenen ist der Bedeutungswandel, den diese Begriffe erlitten haben, nicht bewusst.

Nehmen wir das positiv besetzte Wort Wachstum: Viele von denen, die weiteres Wirtschaftswachstum fordern, sehen nicht, dass unqualifiziertes Wachstum nur zur Ressourcenvergeudung im Konsumgüterbereich führt. Die Zeit, in der Produkte entwickelt, verbraucht und entsorgt werden, verkürzt sich immer weiter.

Statt dessen käme es darauf an, sinnvollere Bereiche der Wirtschaft zu aktivieren, wie z.B. den sozialen Bereich, den wissenschaftlichen Bereich, den Bereich von Ausbildung und Erziehung - alles Bereiche, in denen hoher Personalbedarf herrscht. Die unqualifizierte Forderung nach irgendwelchem beliebigem Wachstum schafft heute keine Arbeitsplätze mehr, sondern wird als Hauptargument für die nächste Einkommensumschichtung missbraucht. Wie die Wirtschaftsaktivitäten in der gewünschten Richtung verschoben werden können, werden wir weiter unten sehen.

Oder nehmen wir den Begriff der Arbeitsproduktivität:
Wertschöpfung dividiert durch die Zahl der Arbeitsstunden.

Steigerung der Arbeitsproduktivität bedeutete früher, zu Zeiten des Wiederaufbaus, dass die gleiche Zahl an Arbeitern mit besseren technischen Hilfsmitteln eine höhere Wertschöpfung erzielte. Darauf waren alle stolz und eine Lohnerhöhung schien gerechtfertigt. Heute bedeutet die Forderung nach höherer Arbeitsproduktivität zumeist, dass der bisher bewältigte (gleich bleibende) Arbeitsumfang künftig durch eine geringere Zahl von Beschäftigten geleistet werden muss. Es handelt sich also um eine beschönigende Umschreibung dafür, dass weitere Entlassungen als notwendig angesehen werden.

Die dritte Forderung: "Billige Energie" hat einen noch schwerer vermittelbaren Bedeutungswandel hinter sich. Energie erschließt in den Hochöfen, in den Kupferschmelzen, in den Aluminium-, Zement- und Kunststoffwerken die Grundstoffe für die industrielle Massenproduktion: Eisenerz wird zu Stahl, Kupfererz zu Kupfer, Bauxit zu Aluminium, Kalkstein zu Zement und Rohöl zu Kunststoffgranulat umgewandelt. Die dafür aufgewendete "Prozessenergie" stellt zwei Drittel der in der Produktion eingesetzten Energie dar. Billige Energie führte zu billigen Grundstoffen und war deshalb die Grundlage des industriellen Wiederaufbaus und Wohlstands. Doch das optimale Verhältnis zwischen Energiepreisen und Personalkosten ist heute längst nicht mehr gegeben. Hier zeigt sich ihr Janusgesicht: Billige Energie und billige Grundstoffe verführen heute die Kapitalgeber, den Schwerpunkt ihrer wirtschaftlichen Betätigung in solche Bereiche zu legen, in denen hohe Gewinne mit geringem Personaleinsatz möglich sind, in denen menschliche Arbeitskräfte durch Automaten ersetzt werden können. Dies sind im Wesentlichen die Betriebe der Konsumgüterproduktion.
Betriebe mit hohem Personaleinsatz hingegen - Dienstleistungsbetriebe im Instandsetzungsbereich, im sozialen und im wissenschaftlichen Bereich - werden für die Unternehmer (auch der Staat gehört dazu) uninteressant und werden vernachlässigt oder geschlossen.

Im Energiepreis erkennen wir damit das Steuerungsinstrument, mit dem die Wirtschaft entweder zu sinnvoller oder selbstzerstörerischer Tätigkeit gebracht werden kann.

Die sozialen Folgen billiger Energie sind verheerend:

  • Es fallen immer mehr Arbeitsplätze weg, die Arbeitslosigkeit steigt.
  • Die Verschwendung an Grundstoffen steigt, da der Konsument gezwungen ist, bei kleinen Defekten eines Produkts ein neues Stück zu kaufen.
  • Die klimaschädlichen Emissionen wachsen weiter.
  • Im sozialen Bereich fehlen die notwendigen Einrichtungen zur Betreuung.
  • Es fehlen Lehrerstellen - womit die einfachste Erklärung für das miserable Abschneiden der deutschen Kinder bei PISA auf der Hand liegt.
  • Grundlagenforschung und Wissenschaft leiden Not.
Die Vorstellung, durch billige Energie und immer mehr Energieeinsatz immer günstigere Verhältnisse zu erreichen, ist somit genauso falsch, wie die kindliche Vorstellung, durch immer mehr Salz den Wohlgeschmack einer Suppe immer weiter steigern zu können. Irgendwann ist das Optimum überschritten und die Suppe wird ungenießbar.

Deshalb ist heute die Forderung nach billiger Energie - anders als es dem Autofahrer oder dem Heizölverbraucher scheinen will - im höchsten Grade unsozial.

Wir brauchen eine Verlagerung der Steuer- und Abgabenlast von der menschlichen Arbeitskraft auf den Energieeinsatz.