Am 21. Februar 2023 kletterte der Preis für eine Tonne CO2 erstmals auf einen Wert von 100,47 €. Das war der bisher höchste Zertifikatepreis an der Leipziger Energiebörse. Die Nachschärfungen im europäischen Emissionshandel haben möglicherweise eine erste Steuerungswirkung entfaltet. Denn im Dezember letzten Jahres einigten sich das Europäische Parlament, der Rat und die Europäische Kommission im Rahmen der sogenannten Trilog-Verhandlungen, die Menge der ETS-Zertifikate bis 2030 im Vergleich zu 2005 schrittweise um 62 Prozent abzusenken. Ab 2023 soll die kostenlose Zuteilung von Zertifikaten eingeschränkt sowie Unternehmen der Luftfahrt und ab 2024 auch des Seeverkehrs in den europäischen Emissionshandel einbezogen werden. 

Bislag sind in Deutschland rund 1.900 Unternehmen verpflichtet, an diesem Handel (EU-ETS) teilzunehmen. Die jährliche Verknappung der Zertifikate und die Erhöhung der Preise sollen Kraftwerksbetreiber ab 20 MW, Anlagen der energieintensiven Industrien (z.B. Stahlwerke, Zementwerke, Raffinerien, chemische Industrie und Aluminiumindustrie) sowie innereuropäischen Luftverkehr zwingen, Treibhausgas-Emissionen zu senken. Außerdem werden noch weitere ca. 4.000 Unternehmen, die Brennstoffe wie Erdgas, Heizöl oder Diesel- und Ottokraftstoffe in Verkehr bringen, vom gesetzlich festgeschriebenen, nationalen Emissionshandelssystem (nEHS) erfasst. Auch sie müssen Emissionszertifikate erwerben und am Handel teilnehmen. Ziel ist es, den Ausstoß klimaschädlicher Treibhausgase teurer werden zu lassen. 

Doch dieser Plan für unser Klima gilt offensichtlich nicht für alle. Nach einer Veröffentlichung des Handelsblattes hat RWE, einer der größten CO₂-Emittenten Deutschlands, bereits seit langem vorgesorgt. Der Konzern hat sich frühzeitig mit kostengünstigen CO2-Zertifikaten eingedeckt. Diese stammen aus Zeiten geringerer Emissionen, etwa infolge einer Wirtschaftskrise, erfolgreicher Energiewende-Entwicklungen oder eines milden Winters.

Der Zertifikate-Sparstrumpf hilft dem Konzern und wahrscheinlich auch vielen anderen Unternehmen heute, Preissteigerungen bei den CO2-Zertifikaten deutlich abzupuffern. Durch den Verkauf von günstig erworbenen Verschmutzungsrechten an der Energiebörse in Leipzig können satte Gewinne eingefahren werden. Damit wird der erhoffte Preisdruck bei der Reduzierung von Treibhausgasen Makulatur. Wie viele Unternehmen von dieser Marktchance Gebrauch machen und sicher vorgesorgt haben, ist uns nicht bekannt. RWE jedenfalls hat gegenüber der Öffentlichkeit bereits 2021 getönt, dass die finanziellen Auswirkungen steigender CO2-Preise bis 2030 abgepuffert seien.

Ob die Bundesregierung von diesen Klimaschutz-Taschenspielertricks Kenntnis hat und eventuell plant, regulierend einzugreifen? Wir haben bei der Informationsplattform “FragdenStaat” nachgefragt. Wir wollten wissen, ob dem Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) die Menge der ETS-Zertifikate bekannt sei, die RWE und andere deutsche Unternehmen aus früheren Jahren besitzen und noch einsetzen können? Darüber hinaus fragten wir, ob die Bundesregierung mit ordnungspolitischen Maßnahmen darauf Einfluss nehmen möchte, um die Wirkmechanismen des Zertifikatehandels nicht untergraben zu lassen.

Die Antwort kam wenige Wochen später und war ernüchternd. Dem BMWK liegen keine Informationen vor, wie viele ETS-Zertifikate der RWE-Konzern oder andere deutsche Teilnehmer am Emissionshandel aktuell besitzen. Allenfalls könne man nachvollziehen, wie viele Zertifikate in den letzten Jahren in Summe ausgegeben wurden. Es stünde grundsätzlich jedem offen, ETS-Zertifikate zu kaufen oder zu verkaufen. RWE jedenfalls sei genauso verpflichtet, für die in seinen Kraftwerken verursachten Emissionen die entsprechende Menge an Zertifikaten abzugeben. Alles muss der Prüfung durch die  Deutsche Emissionshandelsstelle standhalten. Die Reduktion von jährlichen Emissionen ist aus Sicht des BMWK ein hinreichender Anreiz zur Emissionsminderung - auch dann, wenn mehr Zertifikate gehalten werden, als jährlich möglich.

 

Klimaschutz-Lenkungswirkung wird konterkariert

 

Es ist also absurd zu glauben, dass die Verschärfung des europäischen Emissionshandelssystems die fossile Energieerzeugung aus dem Markt drängen werde. Für RWE und Co wird die verlängerte Wirtschaftlichkeit ihrer klimaschädlichen Kraftwerke quasi auf ein goldenes Tablett gelegt. 

RWE Power AG erhält bereits 2,6 Milliarden Euro Entschädigung für die Stilllegung seiner Kraftwerksblöcke. Das ist im Kohleausstiegsgesetz detailliert festgeschrieben. Zusätzlich wird billigend in Kauf genommen, dass der Konzern die Preissignale bei Emissionszertifikaten einfach umgehen kann, indem er mit seinen angesparten Zertifikaten Gewinne schürft. 

Ähnliches gilt auch für andere Unternehmen, die am ETS-Handel teilnehmen und zur Reduzierung ihrer Emissionen verpflichtet sind. Wenn selbst der Staat nicht weiß, wie viele preisgünstigere Verschmutzungsrechte einzelne Unternehmen “auf der hohen Kante” halten, dann steht es um unsere Klimaziele schlecht. 

Ob der Handel mit Verschmutzungsrechten die Lösungsstrategie im Kampf gegen die Erderhitzung sein wird, kann also nach aktuellen Stand stark bezweifelt werden. Wer darin dennoch ein Heilmittel sieht, sollte darauf drängen, den europäischen und nationalen Emissionshandel deutlich zu verschärfen. Einnahmen aus der Handelstätigkeit sollten konsequent in Erneuerbare-Energien-Investitionen gelenkt werden. Alle Altzertifikate müssen konsequent gestrichen und eine weitere deutliche Reduzierung der jährlichen Emissionszertifikate für alle Bereiche - auch für Wärme, Verkehr und Landwirtschaft auf EU-Ebene - angestrebt werden.