Deutschlandweit und international gibt es viele Projekte, die sich mit der Implementierung einer dezentralen erneuerbaren Energieversorgung befassen. Das hier vorgestellte Konzept ermöglicht die Bewertung und den Vergleich solcher Projekte. Dadurch soll herausgefunden werden, was ausschlaggebend für eine erfolgreiche Projektumsetzung ist.

 

Die Bewertung und der Vergleich der hier als „100 % Erneuerbare Energie“ bezeichneten Projekte fällt oft schwer. Gründe hierfür können u.a. die verschiedenen Ziele, Herangehensweisen oder schlicht Projektumfänge sein. Jedoch lassen sich so möglicherweise Rückschlüsse über erfolgversprechende Vorgehensweisen zur Realisierung einer Energieversorgung mit 100 % Erneuerbaren Energien (EE) gewinnen.

Vor dem Hintergrund dieser Problematik wird hier ein Konzept vorgestellt, das die Möglichkeit bietet „100 % Erneuerbare Energie“-Projekte einzuordnen und zu bewerten. Das Konzept beruht auf einer Bewertungsmatrix, mithilfe derer die Projekte unter verschiedenen Gesichtspunkten bzw. Bewertungskriterien betrachtet werden.

 

Beispielprojekte

 

Der Begriff „100 % Erneuerbare Energie“-Projekt ist erst einmal weit gefasst. Im Kontext des hier vorgestellten Konzepts handelt es sich dabei um Projekte von maximal regionaler Dimension. Die Größenordnung erstreckt sich dabei von der eines einzelnen Hauses bis zu der eines gesamten Landkreises. Die konkret verfolgten Ziele der einzelnen Projekte können im Detail sehr unterschiedlich sein. Im besten Fall ist dies Energie-autarkie im Strom-, Wärme- und Verkehrssektor. Jedoch werden auch Projekte betrachtet, die beispielsweise nur auf einen der drei Sektoren spezialisiert sind. Das Vorantreiben der Energiewende steht jedoch bei allen Projekten im Fokus.

Viel mehr als dass die Projekte den oben beschriebenen Anforderungen entsprechen, war zu Beginn nicht klar. Aus einer umfassenden Recherche resultierten 22 teils nationale, teils internationale Projekte. Daraufhin kam die Frage auf, welche Erkenntnisse man aus dieser Recherche ziehen kann. Wie könnte man die Projekte einordnen und bewerten? Wie könnte man die Best Practices herausarbeiten? Um daraus Rückschlüsse zu ziehen, welche Faktoren ausschlaggebend für die erfolgreiche Umsetzung solcher Projekte sind.

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Bewertungsmethodik

 

Ergebnis dieser Überlegungen ist eine Bewertungsmatrix. Die Matrix beinhaltet unterschiedliche Bewertungskriterien, die alle mit einem eigenen Gewichtungsfaktor X versehen sind. Der Gewichtungsfaktor lässt auf die Relevanz des jeweiligen Bewertungskriteriums schließen. Hier gilt: Je höher der Gewichtungsfaktor, desto relevanter das Bewertungskriterium.

Je nachdem, wie gut ein Projekt im Hinblick auf ein Bewertungskriterium abschneidet, wird eine erste Punktzahl A zwischen 1 und 5 vergeben. Die erste Punktzahl wird anschließend mit dem Gewichtungsfaktor multipliziert, woraus sich die zweite Punktzahl B ergibt. Dieser Vorgang wird dann für alle Bewertungskriterien einzeln durchlaufen. Die Punktzahlen B aller Bewertungskriterien werden dann aufaddiert. So erhält jedes Projekt eine Gesamtpunktzahl C und kann mit anderen Projekten verglichen werden.

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Bewertungskriterien

Die Autarkiequoten in den Sektoren Strom, Wärme und Verkehr bilden die ersten drei Bewertungskriterien. Unter Autarkie versteht man die vollständige oder teilweise Selbstversorgung eines Haushalts, einer Kommune, einer Region oder eines Staates mit Gütern und Dienstleistungen.² Bezogen auf die Energiewende ist dies der Anteil selbst erzeugter und genutzter regenerativer Energie am Gesamtenergieverbrauch.

Die Punktevergabe erfolgt dabei, indem verschiedene Bereiche der Autarkiequote definiert werden. Eine Autarkiequote von 0 – 39 % hat eine Bewertung mit 1 Punkt zur Folge. 40 – 59 % 2 Punkte, 60 – 79 % 3 Punkte, 80 – 99 % 4 Punkte, bis hin zu 5 Punkten für vollständige Autarkie. In einigen Fällen wird noch einmal herausgestellt, dass es sich um real erreichte (echte) und nicht nur rechnerische Autarkie handelt, in diesem Fall wird das Kriterium sogar mit 6 Punkten bewertet.

Die Autarkiequoten sind die wichtigsten Kriterien bei der Projektbewertung. Der Status eines Projektes kann daran festgemacht werden, und am Ende sind es die Autarkiequoten, an denen sich die Projekte messen lassen müssen. Eine Autarkiequote von 100 % auf allen drei Sektoren würde beispielsweise für ein erfolgreich abgeschlossenes Projekt sprechen. Die Autarkiequoten erhalten daher mit die höchsten Gewichtungsfaktoren. Jedoch soll mittels der Gewichtungsfaktoren auch die unterschiedliche Komplexität einer Autarkie im Strom-, Wärme- oder Verkehrssektor berücksichtigt werden.

Eine bilanzielle Stromautarkie ist dabei mittels PV- und Windenergie verhältnismäßig einfacher zu erreichen, als vollständig regenerativ versorgter Verkehr. „Neben geeigneter Ladeinfrastruktur oder Carsharing-Angeboten muss jede:r Einzelne überzeugt werden diese Möglichkeiten auch wahrzunehmen, was bisher noch nicht so gegeben ist.“³ wie Guido Wallraven, Projektleiter der Klimakommune Saerbeck, in einem Gespräch bestätigt.

Des weiteren wird der Projektumfang bewertet. Hierbei wird vor allem der Aufwand bzw. die Komplexität betrachtet, welche die Umstellung auf eine erneuerbare Energieversorgung oder deren Aufbau hat. Die ausschließliche Betrachtung des Projektumfangs wäre jedoch ungenügend genau. Der Projektumfang allein berücksichtigt weder den Energiebedarf noch die verfügbare Fläche zur Errichtung von EE-Erzeugungsanlagen. Um die Projekte in dieser Hinsicht noch besser einordnen zu können, werden zwei weitere Kriterien in Form der Siedlungsdichte und -struktur eingeführt.

Die Kombination dieser drei Kriterien schlüsselt den Umfang eines Projektes und dessen damit einhergehende Komplexität für die Zwecke der Bewertungsmatrix genau genug auf. Es gilt das Prinzip: je komplexer desto höher die Bewertung. Außerdem wird das Technologieportfolio der Projekte bewertet. Dabei stellt sich die Frage, ob das Projekt von einer einzigen Technologie abhängig ist oder auf verschiedene setzt und so Versorgungssicherheit auch bei Ausfall einer Technologie (z.B. kein PV-Strom aufgrund starker Bewölkung) gewährleistet ist.

Als weitere Kriterien sind die Projektambitionen und -fortschritte zu nennen. Bei der Bewertung des Fortschritts gilt, dass eine Idee nur so gut ist wie ihre Umsetzung. Bereits vollständig abgeschlossene Projekte werden entsprechend höher bewertet als solche, die sich noch in der Planungsphase befinden oder sogar abgebrochen wurden. Mit der Untersuchung der Ambitionen kann u.a. festgestellt werden, ob das Projekt einen ernstgemeinten Versuch unternimmt die Energiewende voranzutreiben, oder ob das Projekt doch eher der Imagepflege dient, wie es bei vereinzelten Fällen den Eindruck macht.

Als letztes Bewertungskriterium ist noch die Bürger:innenbeteiligung zu nennen. Hierbei wird untersucht, inwieweit Bürger:innen in die Planung miteinbezogen werden bzw. wurden, ob sich Bürger:innen engagieren, mitentscheiden oder finanziell beteiligen können bzw. konnten.

Der Gewichtungsfaktor von 6 ist hier relativ hoch gewählt. Dies beruht auf Erkenntnissen, die aus der Recherche gewonnen werden konnten, sowie Gesprächen mit Herrn Guido Wallraven³, Projektmanager der Klimakommune Saerbeck und Herrn Frank Michael Uhle⁴, Klimamanager des Rhein-Hunsrück-Kreises. 

 

Ergebnisse und Beispiele für bewährte Praktiken

 

Nach Bewertung jedes einzelnen Projektes und Vergleich der Gesamtpunktzahlen C kristallisieren sich einige besonders gut bewertete Projekte heraus. Hier wären beispielsweise das Energieautarke Dorf Feldheim, der Rhein-Hunsrück-Kreis, die Klimakommune Saerbeck oder Wildpoldsried – Das Energiedorf zu nennen.

Nun stellt sich die Frage, was die Gründe für den Erfolg dieser Projekte sind. Ein breites Technologieportfolio beispielsweise scheint einen positiven Effekt zu haben und spricht für die genannten Projekte. Die Energieversorgung basiert dabei auf verschiedenen EE-Technologien. So wird die Abhängigkeit von nur einer einzigen Technologie vermieden. Im besten Fall beinhaltet das Technologieportfolio grundlastfähige EE-Technologien (dies sind Technologien, deren Energieertrag nicht abhängig von Wetter oder Tageszeit ist) sowie Energiespeicher, um bestmögliche Versorgungssicherheit gewährleisten zu können.

Besonders auffällig ist, dass sich jedes der vier genannten Projekte auf starke Bürger:innen-Initiative oder zumindest  Beteiligung stützt. Erfolgversprechend scheint also ein ausgeprägter Mitbestimmungs- und Handlungsspielraum der Bürger:innen zu sein. Es ist also sinnvoll die Menschen vor Ort aufzuklären; sie für die Energiewende zu begeistern, um dann gemeinsam an einem Strang zu ziehen, anstatt über die Köpfe vieler Unbeteiligter hinweg zu entscheiden. Abbildung 2 verdeutlicht den Anstieg der Gesamtpunktzahl C mit der Bürger:innenbeteiligung.

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Beispielhaft soll die enorme Bedeutung dieses Kriteriums, sowie praktische Umsetzungsmöglichkeiten anhand des Rhein-Hunsrück-Kreis verdeutlicht werden. Wie bereits erwähnt, ist die Transformation des Verkehrssektors besonders problematisch, da alle Bürger:innen individuell überzeugt werden müssen. Um diesen Prozess voran zu treiben. war Herr Uhle z.B. an der Gründung eines E-Mobilitäts-Stammtisches in Koblenz beteiligt. Hierbei sind nur private Personen zugelassen, sodass Erfahrungen ausgetauscht und diskutiert werden. Dadurch erhalten auch bisher nur interessierte Personen einen ehrlichen Einblick in Aspekte wie z.B. Betriebskosten, ohne sich sorgen zu müssen, dass es sich um Werbung oder Marketing handelt. Laut Herrn Uhle wird dieser Stammtisch von den Bürger:innen gut angenommen und interessiert besucht, was die Akzeptanz und Beteiligung der Bevölkerung potenziell deutlich steigern kann.⁴ Dies ist aber nur ein Beispiel neben weiteren Plänen der Bürger:innenbeteiligung, wie Herr Uhle erläutert: Aktionstage zum Tausch alter Beleuchtung gegen LED, sodass der Strombedarf gesenkt werden kann; spezielle Förderungen z.B. für Balkon-PV-Anlagen, sodass auch Mieter:innen oder Geringverdienende an der Energiewende teilhaben können; kostenlose Energieberatungen für Einwohner:innen, um zum Sanieren anzuregen; weitere Infoveranstaltungen bzw. Diskussionsabende, wobei den Bewohnenden Konzepte, Pläne oder auch Probleme vorgestellt werden und diese aktiv Kritik, Ideen und Verbesserungsvorschläge einbringen können. ⁴

Darüber hinaus kann sich die Einbindung der Gemeinde auch finanziell rechnen. So will der Rhein-Hunsrück-Kreis bis 2050 rund 250 Mio. € jährliche Energieimportkosten regional binden und damit durch Energieeffizienz und Erneuerbare Energien in regionale Arbeitsplätze und Wertschöpfung wandeln.⁵ Dabei erhalten die Ortsgemeinden z.B. für die Dauer von 20 Jahren rund 7,2 Mio. € jährliche Windpacht-Einnahmen für die meist auf Flächen der Gemeinden befindlichen 276 Windkraftanlagen (Ende 2018); zusätzlich jährlich 1,6 Mio. € Service/Wartungskosten und 2,2 Mio. € regionale EEG-Vergütung. Der regionale Investitionsanteil beträgt dabei 65 Mio. €.⁶ Weiterhin können durch das aktive Einbinden der Bürger:innen Dächer als Einnahmequellen genutzt werden. Bei einem Ziel von 1000 Dächern mit PV-Anlage und damit einem regionalen Investitionskostenanteil von einmaligen 38 Mio. € lassen sich jährlich über 20 Jahre regionale Einspeisevergütungen von 20,8 Mio. € erzielen. Durch die Überproduktion erneuerbaren Stroms und des anschließenden Verkaufs ist der ländliche Raum ein „Energieanbauer“ für die umliegenden Großstädte geworden, bei dem die „letzte“ kWh spätestens 60 km außerhalb des Kreises abgenommen wird.⁶

Die Pachteinnahmen aus Wind- und Solaranlagen nutzen die Ortsgemeinden u.a. für: ⁵

  • Ausbau von Ortsstraßen
  • Neubauten wie z.B. Jugendräume, Büchereien, Kindergärten
  • Erneuerung von Spielplätzen
  • Unterstützung von Nachbargemeinden

Hierdurch erzielen die EE-Erzeugeranlagen einen direkt sicht- und spürbaren positiven Effekt für die Bürger:innen. Diesen soll generell eine größere Rolle bei der Energiewende zukommen, indem aus Konsument:innen sogenannte Prosumer (producer + consumer) werden. Eine gewollt überdimensionierte PV-Anlage auf dem Dach eines Einfamilienhauses produziert dabei beispielhaft das Vielfache des Haushaltsstrombedarfs, wie Herr Uhle an einem realen Wohnhaus in Neuerkirch verdeutlicht Die gewonnene Energie wird in einer Batterie gespeichert, zur Beladung eines E-Autos und zur Nutzung elektrischer Geräte genutzt. Mit der ins Verteilnetz eingespeisten Mehrproduktion könnten demnach weitere 85.000 km im Jahr elektrisch gefahren werden.⁴ ⁶

Dieses Beispiel zeigt anschaulich die Gesamtstrategie der Kreispolitik, deren Ziel es ist, die Bevölkerung mit lokal erzeugter erneuerbarer Energie zu versorgen. Dabei bilden die Prosumer Ausgangspunkt und (de-)zentrales Element des Energiesystems. Es wird nur Energie in die nächst-höhere Spannungsebene weitergereicht, wenn sie vor Ort nicht gebraucht oder gespeichert werden kann.⁶ •

100Prozent_Portrait