Am schönen Niederrhein, unweit des alten Städtchens Kalkar, wurde in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts an einer Monster-Maschine gebaut. SNR-300, der „Schnelle Brüter“, sollte nicht nur, wie andere Atomkraftwerke, die enorme Energie der Kernspaltungs-Kettenreaktion nutzen, sondern zugleich aus dem nicht-spaltbaren Uranisotop 238U einen neuen spaltbaren Stoff „erbrüten“: Plutonium. Diese Technik war beliebt bei Staaten, die ein Atomwaffenprogramm aufgelegt hatten – und bei Politikern in der Bundesrepublik Deutschland. Sie war zugleich besonders unfallanfällig und durch das Plutonium-Inventar mit gewaltigem Zerstörungspotenzial behaftet. Im ersten stromproduzierenden Brutreaktor in Idaho (USA) war es 1955 zu einer partiellen Kernschmelze gekommen, ebenso in einem weiteren US-amerikanischen „Brüter“ in Detroit 1966.[1] Der französische Brutreaktor „Super-Phénix“ wurde 1994 nach zehn Jahren Betriebszeit, die von einer Reihe schwerer Störfälle geprägt waren, endgültig stillgelegt.[2]

Für den deutschen Brüter war von dem federführenden RWE-Konzern als Standort zunächst das Kraftwerksgelände von Eschweiler-Weisweiler vorgesehen. Der Bundesregierung erschien dieser Standort jedoch wegen der hohen Bevölkerungsdichte im Aachener Raum als zu riskant. Deswegen wich RWE an den Niederrhein aus. Beides übrigens Orte, wo im Katastrophenfall bei passender Windrichtung die Verwüstungen größtenteils ins westliche Ausland exportiert werden konnten.

Die Baugeschichte des SNR-300 war von massiven Konflikten geprägt. Am 24. September 1977 war ich selbst einer von 40.000 Demonstrant*innen, die einen Baustopp forderten und auf das größte Polizeiaufgebot trafen, das in der Geschichte der Bundesrepublik je zusammengezogen worden ist. Die Begegnung mit den hochgerüsteten, in Kampfmonturen steckenden Beamten mit ihren Maschinenpistolen war für mich als 17jährigen eines der prägendsten Erlebnisse in meiner politischen Sozialisation. Bei einer Kontrolle des Autos, mit dem wir anreisten, wurden Wagenheber und Abschleppseil als potenzielle Waffen sichergestellt. Bei der nächsten Kontrolle wenige hundert Meter weiter wurde der Wagen stillgelegt, weil die vorgeschriebenen Ausrüstungsgegenstände Wagenheber und Abschleppseil nicht vorhanden waren.

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Es hat fast ein halbes Jahrhundert gedauert, bis ich vor einigen Wochen diesen umkämpften Ort wieder besucht habe. Die Gebäude stehen noch da wie früher; aber hier wurde nie Plutonium erbrütet. Die Proteste und daraus erwachsende Auseinandersetzungen auf der parlamentarischen Bühne waren das eine. Die Baukosten, die wie immer bei Atomkraftwerken aus dem Ruder liefen (aus den ursprünglich veranschlagten 1,8 Mrd. DM waren am Ende 7 Mrd. DM geworden), waren das andere. Die 1985 fertiggestellte Anlage ging nie in Betrieb, das Projekt „Schneller Brüter“ wurde 1991 endgültig zu den Akten gelegt. Es handelt sich um „eine der größten Investitionsruinen Deutschlands“.[3]

Aber die Gebäude stehen noch, wie gesagt. Ein Investor kaufte die Ruine 1995, dem Vernehmen nach für umgerechnet zweieinhalb Millionen Euro, und richtete auf dem Gelände einen Vergnügungspark ein: das „Kernwasser Wunderland“. 2005 wurde der Name geändert: Nun ist es nur noch das „Wunderland Kalkar“. Junge Familien tummeln sich hier auf dutzenden von Fahrgeschäften, angelockt von dem Versprechen, mit dem Eintrittsgeld das Anrecht auf den Verzehr unbegrenzter Mengen an Pommes Frites und Softeis erworben zu haben. Es gibt eine Art Maskottchen, das einem auf Schritt und Tritt begegnet: eine hässliche comicartige Figur im Overall, die auf den Namen „Kernie“ hört.

Kernie

Wir bezogen eins der tausend Hotelbetten auf dem Areal und flanierten durch die Attraktionen von „Kernie‘s Wunderland“. Es geht dort zu wie auf einem Rummelplatz, für Kinder jedes Alters ist etwas dabei. Das Einzige, was man vermisst, ist eine zünftige Geisterbahn. Doch da, etwas abseits vom Gedränge, kommt man an dem Gebäude vorbei, das einmal die Notstromaggregate für das Kraftwerk beherbergte. Hier sieht man die dicksten Betonwände und das massivste rollbare Eingangstor der gesamten Anlage. Wenn etwas passiert wäre, wären die drei riesigen Diesel-Maschinen, die darin standen, dafür verantwortlich gewesen, die Katastrophe in handhabbaren Dimensionen zu halten.

Brüter-Museum

Die heutige Nachnutzung ist vielleicht ähnlich schadensbegrenzend gemeint, jedoch auf ideologischem Gebiet. Das Gebäude beherbergt das „Brüter-Museum“. Dieses „Museum“ hat der Käufer der Anlage ganz in der Hand von RWE belassen. Man dachte ja, man kennt die Handschrift von RWE – aber hier lernt man noch einmal das Staunen. Ja: Die Ausstellung führt auch mit Schaubildern, Modellen und Erklärtexten in die Technik des gescheiterten Projektes ein. Aber darum geht es hier nicht. Es geht um energiepolitische Statements. Gleich am Anfang wird man auf einer Erklärtafel belehrt: „Wenn du diesen Rundgang machst, wirst du erfahren wo die Energie her kommt und wofür wir die Energie gebrauchen. […] Um z.B. Essen zu kochen oder die Wohnung zu heizen benötigst Du Wärme. Diese kann man aus fossilen Brennstoffen (Holz, Kohle, Öl, Gas u.ä.) oder aus Kernspaltung gewinnen.“ (Orthographie und Interpunktion beibehalten) Das ist also das Energiequellen-Universum, das die Besucher des „Museums“ in den Kopf bekommen sollen. Hat RWE nicht selbst schon mal Wasserkraftwerke besessen? Und hält man dort wirklich Holz für einen fossilen Brennstoff?

Jedenfalls heißt es weiter: „Eine Alternative zu den fossilen Brennstoffen ist die Kernenergie. Der Brennstoff Uran ist in ausreichender Menge vorhanden und in großem Maße für die Energieerzeugung nutzbar. Ein weiterer Schritt zur Stromversorgung sind Brutreaktoren. Brutreaktoren erschließen eine neue Energiequelle: Sie machen Uran mit einem Minimum an Umweltbelastung zu einem nahezu unerschöpflichen Energieträger.“

Fast ein Perpetuum Mobile also. Warum nur stehen wir dann im Moment in einer Ruine? Auch hier weiß die Ausstellung eine Antwort: „Politische Differenzen und die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl 1986 beeinträchtigten den Verlauf des folgenden Genehmigungsverfahrens erheblich, […] Man beschloss im März 1991 das Projekt zu beenden, weil nicht abzusehen war, wie ein Großvorhaben weiter durch endlose politische Diskussionen finanziert werden könnte.“ Ja, solche endlosen politischen Diskussionen und Differenzen hatte es beim Bau der Reaktoren von Tschernobyl nicht gegeben. Demokratie kann sehr lästig sein. Aber: War da nicht noch was? Gab es nicht eine Protestbewegung gegen den Brüter? Die Demo vom 24. September 1977? Keine Silbe davon im „Brüter-Museum“. Nein, wir wollen korrekt sein. In einer Vitrine voller Fotos aus der Bauphase des Schnellen Brüters finden sich auch zwei kleine Fotos, die Ansammlungen von Polizeifahrzeugen zeigen. Bildunterschrift: „September 1977 / Vorbereitungen der Polizei gegen Groß-Demonstration“. Das ist in der Formulierung schön ehrlich: Wie ich aus eigener Augenzeugenschaft weiß, hatte der Staat damals tatsächlich „gegen“ das verfassungsmäßig garantierte Demonstrationsrecht agiert, das er eigentlich hätte schützen und durchsetzen müssen. Ein kleiner sprachlicher Lapsus kann große Wahrheiten enthüllen. Entscheidend ist jedoch, dass die Demonstration selbst in dem „Museum“ nicht vorkommt, obwohl doch reichhaltig Bildmaterial davon verfügbar sein dürfte – auch in den RWE-Archiven.

In der Ausstellung im Wunderland geht es immer so weiter. Eine Tafel fragt: „Was passiert nun nach dem Ausstieg?“ Und antwortet: „Wie schon beschrieben / fossile Brennstoffe sind bald verbraucht / Wind, Wasser und Sonne können die Kernenergie nicht ersetzen. / Die Fusionsforschung steckt noch in den Kinderschuhen. / Ein neuer Anlauf wird mit Hilfe der EU in Frankreich genommen.“

Man könnte zur Verteidigung solcher Prosa einwenden, dass diese etwas schlichten Gedankengänge, in denen man geduzt wird, auf jüngere Kinder als Zielgruppe gemünzt seien, die man nicht mit allzu viel Ambivalenz und Komplexität abschrecken will. Aber nein! Die Kinderabteilung kommt ja erst noch! Es ist die Ausstellung „KERNIE-KIDS“. Da wird der ganze Unsinn noch einmal wiedergekäut. Die Quintessenz lautet: „Kernenergie – echt super!“

Kernie-Kids

Man könnte einen weiteren Versuch einer Verteidigung starten und annehmen, dass diese Ausstellung vom Käufer des Geländes 1995 vorgefunden wurde und nun als Zeugnis vergangener Zeiten konserviert wird. Freilich würde man dann am Eingang einige erläuternde Worte zu diesem Vorgehen erwarten. Und ach! Es gibt noch eine weitere Entdeckung. In einer Vitrine finden sich Zeitungsausschnitte zur Energiepolitik, Schlagzeilen wie „Deutsche akzeptieren Braunkohle“. Der Ausschnitt, dessen wichtige Passagen sorgfältig mit Textmarker hervorgehoben sind, hat keine Quellenangabe, ich würde ihn etwa auf das Jahr 2015 datieren. Daneben liest man: „Windkraft ist eine zusätzliche Gefahr für Fledermäuse“. Hier ist die Quelle vermerkt: NRZ, 11.2.2017. Beides sind Statements, die das Verständnis der Brüter-Technologie nicht unbedingt vertiefen, sondern offenbar ein anderes – und recht aktuelles – Ziel verfolgen.

Wir stehen also nicht in einer Zeitkapsel aus den 90er Jahren. Diese Ausstellung wird bis in die Gegenwart hinein gepflegt und ihren Besucher*innen als die reine Wahrheit verkauft. Zugegeben: Es sind nur wenige Leute, die sich hierhin verirren. Kinder schon mal gar nicht; warum sollten die zwischen Pommes, Piratenschiff und Softeis Zeit für dieses muffige Gemäuer haben! Einige ihrer Daddys besuchen es aber. Wenn, wie ich schätze, nur ein Prozent der Gäste im Wunderland das „Museum“ betritt, dann sind es um die 2000 Menschen, die jährlich die geschilderten Gruselbotschaften aus Absurdistan konsumieren. Es gibt sie also doch, die Geisterbahn im Wunderland Kalkar. Und sie ist nur etwas für die ganz Harten!

Bin ich vielleicht zu zartbesaitet? Ich war jedenfalls fassungslos über diese Ausstellung. Einige nominale Zugeständnisse an die Pluralität macht man heute doch auch in reinen Propaganda-Ausstellungen – und wenn auch nur, um die angedeutete Gegenposition dann genüsslich zu „widerlegen“. Nichts davon im „Brüter-Museum“! Hier waren Menschen am Werk, die in einer völlig eigenen, einwandsimmunen Realität leben. Das ist angesichts von Anlagen mit dem Gefahrenpotenzial eines Atomkraftwerks, eines Brutreaktors gar, freilich noch unangenehmer als sonst. Gut, dass der Schnelle Brüter an irgendwelchen geheimnisvollen politischen Differenzen und Diskussionen gescheitert ist. – Aber vergessen wir auch nicht, dass dieselbe Denke heute noch denselben Konzern im Hinblick auf den Braunkohle-Komplex beherrscht. Diese Einsicht kann man aus „Kernie‘s Wunderland“ mit nach Hause nehmen: Ein Recht Wunderlicher Energiekonzern – das war, ist und bleibt RWE.

 

Nachweise

 

[1]             https://de.wikipedia.org/wiki/Brutreaktor

[2]             https://de.wikipedia.org/wiki/Kernkraftwerk_Creys-Malville

[3]             https://de.wikipedia.org/wiki/Kernkraftwerk_Kalkar

 

Abbildungsnachweise

 

Abb. 1: Bauplatz des SNR-300 am 24.9.1977. Quelle: CC 0 (Wikipedia, Koen Suyk/Anefo)

Abb. 2: Maskottchen „Kernie“, im Hintergrund der zur Kletterwand umgestaltete Kühlturm. Quelle: CC BY-SA-NC Rüdiger Haude

Abb. 3: Der Eingang zum „Brüter-Museum“. Quelle: CC BY-SA-NC Rüdiger Haude

Abb. 4: Versuchte Verführung Minderjähriger. Quelle: CC BY-SA-NC Rüdiger Haude