Datum: 21.12.2003

Weitere Fehleinschätzungen zum Emissionshandel

von Jürgen Grahl

Behauptung 1: Da der Emissionshandel ohnehin nicht mehr aufzuhalten ist, sollten wir uns um eine gerechte Ausgestaltung und ein Schließen möglichst vieler Schlupflöcher bemühen.

Natürlich ist es richtig, dass sich der Emissionshandel EU-weit nicht mehr aufhalten lässt. Darauf sollten wir unsere Energie auch nicht verschwenden - ebenso wenig wie auf seine Forcierung; vielmehr sollten wir uns darauf konzentrieren, die wirklich wirksamen Instrumente politisch voranzubringen, allen voran die kostendeckende Vergütung für erneuerbare Energien (möglichst europaweit!) und die ökologische Steuerreform. Unser vehementes Eintreten gegen den Emissionshandel resultiert letztendlich aus der Sorge, dass ihm die Durchsetzung dieser zentralen Instrumente zum Opfer fallen könnte. Darüber hinaus liegt es auf der Hand, warum der Emissionshandel derzeit leichter politisch durchsetzbar erscheint als die ökologische Steuerreform: Die Wirtschaft freundet sich eher damit an, da sie auf seine Ineffektivität hofft. Wir sollten die Widerstände gegen den ökologischen Umbau überwinden, indem wir uns darauf konzentrieren, die "ökologische" Steuerreform in der Öffentlichkeit besser zu vermitteln, insbesondere ihre ökonomischen und sozialpolitischen Chancen und ihre zentrale Notwendigkeit für die Überwindung der Arbeitsmarktkrise.

Behauptung 2: Gerade beim Klimaschutz sind gemeinsam getroffene internationale Verpflichtungen wichtiger als einzelstaatliche Aktivitäten.

Niemand kann bestreiten, dass Klimaschutz global erfolgen muss. Das Warten auf einen internationalen Konsens über Klimaschutzmaßnahmen, die - anders als das Kyoto-Protokoll - diesen Namen auch verdienen, ist aber illusorisch; die konsensuale Strategie bedeutet fast zwangsläufig die Beschränkung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner und schafft keine Dynamik zugunsten weitergehender Maßnahmen - schon gar nicht mit einem Instrument, dem es zuallererst um LASTENverteilung geht. Dieser tote Punkt, in den der Konsensualismus die Klimaschutzbemühungen hineinmanövriert hat, lässt sich wohl nur dadurch überwinden, dass einzelne, einsichtigere Länder nationale Vorreiterrollen übernehmen und damit demonstrieren, dass Klimaschutz keine Bürde, sondern eine große ökonomische Chance ist. Nationale Vorreiterrollen sind beim Emissionshandel aber systembedingt undenkbar (vgl. auch Behauptung 6).

Damit soll nicht gesagt werden, dass wir auf die internationale Festschreibung konkreter Reduktionsverpflichtungen verzichten sollten; aber man sollte sich darüber im Klaren sein, dass diese fast zwangsläufig hinter dem Notwendigen und Machbaren zurückbleiben müssen. Leider zeigt die Erfahrung, dass Verpflichtungen wie die Deutschlands zu 21% CO2-Reduktion bis 2008/12, welche allenfalls als Minimalziele akzeptabel sind, sehr schnell in der öffentlichen Wahrnehmung zu Maximalzielen mutieren. Es ist insofern ein großer strategischer Fehler der Umweltbewegung, dass sie sich für die Kyoto-Ziele hat vereinnahmen lassen (und nun versucht, "wenigstens" diese gegen die USA und andere Bremser zu "retten"); so gerät in Vergessenheit, wie unzureichend diese Ziele sind, und kaum jemand macht sich noch Gedanken, wie mehr als das Vereinbarte erreicht werden könnte.

Behauptung 3: Nach der ökonomischen Theorie sind Energiebesteuerung und Emissionshandel in ihrer Lenkungswirkung völlig gleichwertig, sofern der Energiesteuersatz dem Marktpreis der Zertifikate entspricht.

Hierbei wird zunächst außer acht gelassen, dass der Emissionshandel den Energieeinsatz in der Summe nicht verteuert, sondern lediglich zu einer Umverteilung der Kosten führt, nämlich von denjenigen, die ihre Reduktionspflichten nicht erfüllen, zu denjenigen, die sie übererfüllen. Daher erlaubt er - anders als die Energiebesteuerung - auch keine Entlastung des Faktors Arbeit von Steuern und Sozialabgaben, lässt somit die bestehende gravierende Schieflage zwischen Arbeit und Energie unverändert.

Aber selbst wenn man allein die ökologische Lenkungswirkung im Blick hat, ist es fragwürdig, Emissionshandel und Energiebesteuerung als gleichwertig anzusehen; zu dieser Folgerung kann die ökonomische Theorie nur aufgrund wirklichkeitsfremder Vereinfachungen kommen: Bestünde ein eindeutiger (und zeitlich konstanter) Zusammenhang zwischen Energieverteuerung und erreichter Emissionsreduktion und wäre dieser Zusammenhang mit "hinreichender" Genauigkeit bekannt bzw. messbar, dann wäre es in der Tat unerheblich, ob man (wie beim Emissionshandel) die erlaubte Emissionsmenge direkt vorgibt oder aber (wie bei der Energiebesteuerung) den Preis. Diese Voraussetzung ist jedoch offensichtlich nicht erfüllt: Da wir über keine vollständige Information verfügen, ist die Kurve, die den Zusammenhang zwischen Energiepreis und erreichter Reduktion beschreibt, nur mit unvermeidbaren Ungenauigkeiten und Unsicherheiten bestimmbar. Aus diesem Grunde ist es nicht möglich, Menge und Preis gleichzeitig zu kontrollieren: Bei der Energiebesteuerung wird der Preis vorgegeben, beim Emissionshandel die Menge; in beiden Fällen verliert man die Kontrolle über die jeweils andere Größe. Insofern sind beide Szenarien nicht vergleichbar und haben deshalb auch keinesfalls die exakt gleiche Wirkung. Hierbei ist die Feststellung wesentlich, dass der Energieeinsatz nur recht unelastisch auf steigende Energiepreise reagiert, die Preiselastizität der Energienachfrage also gering ist. (Darin spiegelt sich die überragende Rolle des Produktionsfaktors Energie wider, der nicht ohne weiteres durch andere Faktoren substituiert werden kann. Und auch der Wechsel von einem fossilen auf ein solares Energiesystem ist nicht von heute auf morgen möglich.) Dies bedeutet umgekehrt, dass bei einer Mengenregelung wie dem Emissionshandel die sich am Zertifikatemarkt bildenden Preise außerordentlich empfindlich von der vorgegebenen Menge abhängen. Die angesprochenen unvermeidlichen Unsicherheiten bezüglich des Zusammenhangs zwischen Menge und Preis führen daher bei einer Mengenregelung dazu, dass der zu einer vorgegebenen Menge gehörige Preis starken, unvorhersehbaren Schwankungen unterliegen kann, und bergen insofern die Gefahr einer Destabilisierung der Energiepreise in sich. Aus diesem Grunde ist es gerechtfertigt, von einer strukturellen Instabilität des Emissionshandels zu sprechen. (Näher ist dies im o.g. Artikel "Der Emissionshandel" im Solarbrief 3/02 ausgeführt.) Durch den Emissionshandel könnte schlimmstenfalls genau das eintreten, was wir jetzt mühsam als Horrorvision der "Bremser" zu enttarnen versuchen: dass Klimaschutz eben doch wirtschaftlich schädlich sein könnte. Diese Gefahr entfällt bei einer einem langfristigen Erhöhungspfad folgenden Energiebesteuerung - sie gewährleistet Planungssicherheit und vermeidet allzu heftige Preisschocks; der vermeintliche Nachteil fehlender direkter Mengenvorgaben ist in Wirklichkeit ein Vorteil, weil er die Kontrollierbarkeit der Energiepreise sicherstellt.

Die Gleichsetzung der beiden Instrumente (oder allgemeiner von Preis- und Mengenregelungen) zeugt letztlich von einer statischen Betrachtungsweise, die der realen Systemen typischerweise innewohnenden Dynamik nicht gerecht wird und nicht erst im Lichte der Erkenntnisse der modernen Chaostheorie dringend revisionsbedürftig ist.

Behauptung 4: Die Industrie kann sich vor unkontrollierbaren Energiepreisschwankungen beim Emissionshandel durch sog. Futures absichern.

Den Futures liegt folgendes simple Börsenkonzept zugrunde: Um sich gegen ein mögliches Risiko abzusichern, einigen sich Käufer und Verkäufer einer Ware zu einem bestimmten Zeitpunkt über ihren Preis an einem ganz bestimmten Datum in der Zukunft. Das Geschäft soll damit für Käufer und Verkäufer berechenbar werden. Futures könnten auch im Emissionshandel eingesetzt werden, um KURZfristige Energiepreisschwankungen zu glätten. Sie wären jedoch kein hinreichender Schutz gegen LÄNGERfristige Preisrisiken. Wenn sich herausstellen sollte, dass die über 5 oder 10 Jahre im Voraus vorgegebenen Reduktionsziele nur über explodierende Preise einhaltbar sind, dann könnte auch das beste und ausgeklügeltste System von Futures diese Preisexplosion nicht aufhalten. Natürlich wird es in der Praxis nie so weit kommen, weil man nur solch unambitionierte Reduktionsziele festlegen wird, dass keinerlei Gefahr einer Preisexplosion besteht. Das ist einer der systemimmanenten Gründe dafür, weshalb beim Emissionshandel kaum ernsthafte Reduktionsvorgaben erreichbar sind.

Im übrigen haben gerade die letzten Jahre gezeigt, welch destabilisierende Wirkung der sich zunehmend von der Realwirtschaft abkoppelnde Derivathandel mit "Optionen auf Optionen auf Optionen", wie Helmut Schmidt es spöttisch genannt hat, auf das Weltfinanzsystem hat. Das ganze System des Emissionshandels könnte durch Spekulationen bedroht werden - und angesichts der fundamentalen Bedeutung der Energie wäre dies ein ergiebiges Feld für skrupellose Spekulanten. Selbst Befürworter des Emissionshandel räumen schon jetzt die Gefahr ein, dass Emissionsrechte gehortet und später teuer verkauft werden. Zu denken geben sollte uns auch, dass der Emissionshandel gerade auch von der Finanzwirtschaft forciert wird, die darin offenbar einen Ersatz für den zusammengebrochenen Neuen Markt als Spielwiese für Spekulanten sieht.

Behauptung 5: Steuerpolitische Maßnahmen wie die ökologische Steuerreform eignen sich weniger zum Klimaschutz, da sie einem zu starken politischen Druck unterliegen.

Der politische Druck bei der ökologischen Steuerreform ist nicht von der Hand zu weisen. Er wäre beim Emissionshandel aber noch stärker, wenn wirklich "spürbare" Emissionsgrenzen festgesetzt würden. Bei der Energiebesteuerung sind ja, wie oben ausgeführt, die finanziellen Belastungen kontrollierbar, beim Emissionshandel nicht; vorgegeben werden lediglich Reduktionsziele, deren Einhaltung dann der Markt sicher stellt, notfalls auch um den Preis ins Unermessliche explodierender Energiekosten. Daher impliziert der Emissionshandel ein wesentlich größeres Risiko, wirtschaftliche Verwerfungen auszulösen, welche ihn in der öffentlichen Wahrnehmung sofort diskreditieren würden.

Zudem ist abermals daran zu erinnern, dass die "ökologische" Steuerreform auch unabhängig von ökologisch-klimapolitischen Erwägungen allein schon aus ökonomisch-sozialen Gründen dringend geboten ist.

Behauptung 6: Der jetzige Ökosteuersatz hat eine geringere Lenkungswirkung als die festgelegten Reduktionen beim Emissionshandel.

Dies ist zunächst durchaus richtig; in der Anfangsphase muss man bei beiden Instrumenten ökologisch unbefriedigende Steuersätze bzw. Reduktionsziele in Kauf nehmen. Die entscheidendere Frage ist jedoch, mit welchem Instrument längerfristig die ambitionierteren Ziele zu erreichen sind, welchem Instrument die größere Dynamik zukommt. Nach Ansicht des SFV ist das eindeutig die ökologische Steuerreform, da sie nationale Vorreiterrollen ermöglicht; diese sind beim Emissionshandel schwer denkbar: Jedem Staat muss im Gegenteil daran gelegen sein, den Referenzwert der zugestandenen Emissionen möglichst hoch zu halten - und zwar selbst dann, wenn seine Industrie diesen Wert deutlich unterbieten wird, denn dann kann sie vom Verkauf nicht benötigter Emissionsrechte profitieren. Die Möglichkeit, dass die Staaten ihre Emissionsbudgets letztlich mehr oder minder souverän - nur indirekt durch etwaigen internationalen Druck beeinflusst - festlegen können, stellt für sie eine Art "Lizenz zum Gelddrucken" dar. Weshalb sollten sie darauf verzichten? Auf diese Weise wird durch den Emissionshandel Klimaschutz allein den Idealisten unter den Staaten aufgebürdet, und das kann ebenso wenig funktionieren wie etwa die Finanzierung der Energiewende durch Ökostrom kaufende Idealisten. Damit sind wir beim zentralen Fehler des Emissionshandels: Die Referenzwerte der erlaubten Emissionen (die zwangsläufig mehr oder minder willkürlich gewählt werden müssen) bekommen eine völlig unangemessene Bedeutung. Es liegt also an der Struktur des Emissionshandels, dass die an ihm teilnehmenden Staaten kaum zu ernsthaften Reduktionsverpflichtungen zu bewegen sein werden.

Dass dies keine theoretische Befürchtung ist, zeigt sich an der Politik der Bundesregierung: Sie hat sich verbindlich nur zu 21% Reduktion bis 2008-2012 verpflichtet, obwohl sie national an 25% bis 2005 festhält: Erreicht sie dieses ambitioniertere Ziel, so kann die deutsche Wirtschaft bedeutende Einnahmen durch den Verkauf der nicht benötigten Zertifikate erzielen!

Solche Effekte sind bei der ökologischen Steuerreform undenkbar, ganz im Gegenteil: Sobald deren positive Beschäftigungswirkungen nach einigen Jahren unübersehbar werden, wird die Politik die Umschichtung der Steuerlast von der Arbeit hin zur Energie energisch vorantreiben und muss sich nicht mehr wie heute noch regelrecht "zum Jagen tragen" lassen.

Behauptung 7: Der Verwaltungsaufwand des Emissionshandels ist geringer als bei ordnungsrechtlichen Maßnahmen wie etwa der Festlegung absoluter Emissionsobergrenzen.

Die Festlegung solcher Obergrenzen erscheint uns unrealistisch und ist von uns nie gefordert worden. Verglichen mit der Energiebesteuerung ist der Verwaltungs- und insbesondere der Bilanzierungsaufwand beim Emissionshandel gigantisch. Die von uns vertretene Alternative heißt deshalb: ökologische Steuerreform und als flankierendes ordnungsrechtliches Element ein gesetzliches Verbot des Neubaus fossiler Kraftwerke.