Das Zusammenspiel von Energiepreisen und Arbeitslosigkeit

vom 11.07.2000 (überholt)


Markteinführung der Solarenergie??? Habt Ihr angesichts von vier Millionen Arbeitslosen eigentlich keine anderen Sorgen?

Von Jürgen Grahl

Das Thema Umwelt ist in den 90er Jahren in Deutschland aufgrund der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit völlig ins Hintertreffen geraten. Auch wenn in Anbetracht der durch die Verbrennung der fossilen Energieträger Öl, Gas und Kohle heraufbeschworenen Klimakatastrophe die Existenz der menschlichen Zivilisation auf dem Spiel steht: Umweltschutz gilt angesichts der wirtschaftlichen Probleme als Luxus für bessere Zeiten.

Trauriger Höhepunkt ist die vom CDU-Spitzenkandidaten Volker Rühe im schleswig-holsteinischen Landtagswahlkampf proklamierte zehnjährige äÖkopause“. Diese Haltung ist um so fataler, als Ökologie und Ökonomie nicht nur keine Gegensätze bilden, sondern die Ökologie im Gegenteil sogar den vielleicht entscheidenden Beitrag zur Überwindung unserer Arbeitsmarktprobleme leisten kann. Hierbei sind zwei Aspekte zu betrachten: Zum einen die Energiewende - die komplette Umstellung unseres fossil-atomaren Energiesystems auf regenerative Quellen -, zum anderen der ökologische Umbau des Wirtschafts- und Steuersystems.

Arbeitsplätze durch die Energiewende

Bereits heute bietet der Umweltschutz etwa einer Million Menschen in Deutschland Arbeit. Die Energiewende würde eine Umstellung vom heutigen extrem kapitalintensiven, zentralistischen Energieversorgungssystem mit wenigen Großkraftwerken hin zu einer arbeitsintensiven, dezentralen Stromerzeugung bedeuten: Während für die Bedienung eines Kernkraftwerks nur wenig Personal erforderlich ist, ist die Installation der vielen benötigten Solar- und Windkraftanlagen sehr arbeitsaufwendig; die rasche Markteinführung der erneuerbaren Energien würde daher massenhaft zukunftssichere Arbeitsplätze bei den Installateuren der Solarmodule und Windräder schaffen - und schafft sie bereits heute: Im Bau von Windkraftanlagen sind mittlerweile schon fast 20.000 Menschen beschäftigt, etwa ebenso viele wie in der Atomindustrie. Der Windstromanteil in Deutschland beträgt jedoch erst 1,4%, der Atomstromanteil hingegen 33%!
Und die Solartechnik ist noch deutlich arbeitsintensiver als die Windenergie. Die Ablösung von Kohle und Atom durch Sonne, Wind und Biomasse kann leicht eine Million neuer Arbeitsplätze schaffen!

Die Bedeutung des Produktionsfaktors Energie


Gegen diese Argumentation wird in der Regel eingewandt, daß der Anstieg der Strompreise, der mit einer Umstellung auf regenerative Stromerzeugung einhergehen würde, für die Privatkunden, vor allem aber für die Industrie unzumutbar sei. Dabei ist gerade die Verteuerung der Energie ein wichtiger und dringend notwendiger Baustein einer langfristigen Strategie zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit durch eine umfassende Ökologisierung unserer Wirtschaftsweise: Denn so wichtig die Umstellung unseres Energiesystems auf regenerative Energieträger auch ist, sie alleine würde zu kurz greifen. Die zentrale Aufgabe ist es, die heutige Unattraktivität des Produktionsfaktors Arbeit zu überwinden, indem man Arbeit verbilligt und Energie verteuert.
Betrachten wir zur Illustration die gegenwärtige Situation: In den westlichen Industrienationen liegt der Anteil der Arbeitskosten an den Gesamtkosten der Produktion bei durchschnittlich 60 bis 70%, der der Energiekosten dagegen bei unter 5% (Rest: Kapitalkosten). Genau umgekehrt verhält es sich jedoch, wenn man danach fragt, wie äwichtig“ die einzelnen Produktionsfaktoren für den Produktionsprozeß sind, welche äAnteile“ an der Gesamtwertschöpfung ihnen zugeschrieben werden können. Ein Maß hierfür sind die sogenannten Produktionsmächtigkeiten oder Produktionselastizitäten; diese geben die Gewichte an, mit denen die Wachstumsraten der einzelnen Faktoren zum Wachstum der Wertschöpfung beitragen. Die Produktionselastizität der Arbeit liegt derzeit bei 10 bis 15%, die der Energie hingegen bei über 50%; der Rest entfällt auf den Faktor Kapital (vgl. R. Kümmel, äEnergie und Kreativität“, Teubner-Verlag, Leipzig 1998, S. 42). Etwas vereinfacht ausgedrückt bedeutet dies: Eine Erhöhung des Energieeinsatzes um z.B. 10% (bei gleichbleibendem Einsatz von Arbeit und Kapital) bewirkt eine Steigerung der Wertschöpfung um über 5%, erhöht die Kosten aber lediglich um 0,5%; demgegenüber läßt eine Ausweitung des Einsatzes an Arbeit um ebenfalls 10% (bei Konstanz des Faktoreinsatzes von Kapital und Energie) die Wertschöpfung nur um ca. 1 bis 1,5% wachsen, die Kosten jedoch um 6 bis 7%. Die Energie ist mittlerweile also unser bedeutsamster Produktionsfaktor, demgegenüber die menschliche Arbeitsleistung nur noch eine eher untergeordnete Rolle spielt.
Der Energieverbrauch in der Bundesrepublik entspricht der Arbeitsleistung von 780 Millionen Schwerstarbeitern; für jeden Bundesbürger arbeiten also gewissermaßen im Verborgenen 10 äEnergiesklaven“! Insofern ist die Energie auch die Basis unseres gegenwärtigen Wohlstandes.
Diese Betrachtungen machen die Grundtendenz der wirtschaftlichen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten verständlich: die Ersetzung von teurer und relativ ineffektiver menschlicher Arbeitskraft durch billige und effektive äEnergiesklaven“ - Stichwörter, Rationalisierung und Automatisierung. Diese Grundtendenz ist es, die der Wirtschaft den unseligen Zwang zu permanentem Wachstum auferlegt, um nämlich die äfreigesetzten“ Arbeitskräfte wieder in den Produktionsprozeß zu integrieren und einen fortlaufenden Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verhindern - eine Rechnung, die heute, da wir die hohen Wachstumsraten früherer Jahrzehnte aus verständlichen Gründen nicht mehr erreichen können, zunehmend weniger aufgeht.
Es ist der vielleicht entscheidende Fehler der modernen Wirtschaftstheorie, die volkswirtschaftliche Bedeutung der Energie bisher fast völlig ignoriert zu haben; die Energie wird meist noch nicht einmal als eigener Produktionsfaktor anerkannt. Als solche gelten bis heute im wesentlichen nur Kapital und Arbeit, manchmal ergänzt um den eher diffusen Begriff äBoden“. Hier dürfte einer der Hauptgründe dafür liegen, weshalb Wirtschaftstheorie wie Wirtschaftspolitik bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit bisher so grandios versagt haben. Insbesondere ist das neoliberalistische Konzept, durch eine sogenannte angebotsorientierte Wirtschaftspolitik (d.h. die Entlastung der Unternehmen) Investitionen anzuregen, die dann zur Schaffung neuer Arbeitsplätze führen sollen, völlig ungeeignet. Investitionen fließen heute nur noch in kleinem Maße in den Faktor Arbeit, in wesentlich größerem Maße aber in den ungleich ergiebigeren Faktor Energie. Auch eine Entlastung der Unternehmen ändert nichts an der Unrentabilität des Faktors Arbeit gegenüber dem Faktor Energie.
Arbeitsplätze entstehen aber nicht aus äkaritativen“ Motiven, weil sich die Unternehmen diesen äLuxus“ aufgrund ihrer Gewinnsituation gewissermaßen äleisten“ könnten, sondern nur dann, wenn es betriebswirtschaftlich sinnvoll ist - was unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen nicht der Fall ist. Die (angebliche) fehlende Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft aufgrund des zu hohen Lohnniveaus wird oft beklagt, aber der mindestens ebenso bedeutsame Verdrängungswettbewerb zwischen den Faktoren wird komplett vernachlässigt.
Damit läßt sich auch das in der deutschen Öffentlichkeit oftmals Ratlosigkeit auslösende Paradoxon erklären, daß der Aufschwung zumeist am Arbeitsmarkt vorbeigeht, daß mit den Unternehmensgewinnen und den Börsenkursen auch die Arbeitslosigkeit klettert: Der Faktor Arbeit hat nur noch untergeordnete Bedeutung und ist damit von der wirtschaftlichen Gesamtentwicklung bereits in erstaunlichem Ausmaß entkoppelt.

Die großen Chancen der Ökosteuer


Der Schlüssel für den Abbau der Arbeitslosigkeit liegt also darin, den Faktor Arbeit gegenüber dem Faktor Energie wieder attraktiv zu machen: Im Augenblick besteuern wir Arbeit (Kapital nur halbherzig) und subventionieren Energie, was sowohl zu der hohen Arbeitslosigkeit als auch zur ökologischen Krise geführt hat, denn von allem, was man mit Steuern belegt, gibt es meist am Ende weniger, und was man subventioniert, vermehrt sich.
Hier setzt das vielgeschmähte und polemisch auf die ä5DM-pro-Liter“-Formel reduzierte Konzept der ökologischen Steuerreform an: Der Faktor Energie (oder allgemeiner der Umweltverbrauch) wird steuerlich belastet; mit den Einnahmen aus diesen Ökosteuern wird die Entlastung des Faktors Arbeit finanziert, im wesentlichen durch eine Senkung der Lohnnebenkosten. Um auch diejenigen, die hiervon nicht profitieren (Rentner, Arbeitslose etc.), zu entlasten, sollte zudem an alle Haushalte eine Art Ökobonus ausgeschüttet werden. Daß dies bei den von der rot-grünen Bundesregierung initiierten ersten Schritten der ökologischen Steuerreform nicht vorgesehen ist, ist ein ernstzunehmendes Manko dieses an sich so wichtigen Projektes.
Wesentlich für den Erfolg und die Umsetzbarkeit des Konzeptes ist, daß die Reform erstens aufkommensneutral ist, der Staat also sämtliche Einnahmen aus den Ökosteuern an die Bürger bzw. Unternehmen zurückgibt, und daß zweitens die Erhöhung der Energiepreise nur allmählich in kleinen Schritten nach einem festen, über mehrere Jahrzehnte kalkulierbaren Planungshorizont erfolgt, um schockartige Wirkungen zu vermeiden und der Wirtschaft und den Bürgern die notwendige Zeit zur Anpassung zu lassen. Eine spürbare Lenkungswirkung der Reform wird auf diese Weise zwar erst nach mehreren Jahren auftreten, aber dafür werden die Reibungsverluste gering gehalten. Um so wichtiger ist es angesichts dieses langfristigen Zeithorizonts, daß jetzt mit der Reform begonnen wurde - wenn auch nur eher zaghaft.
Man mag einwenden, es sei gar nicht wünschenswert, den hohen Automatisierungsgrad der industriellen Wirtschaft rückgängig zu machen. Darum geht es aber auch nicht: Das Ziel ist nicht, nun wieder Maschinen durch Schwerstarbeit verrichtende Menschen zu ersetzen. Es wäre schon viel gewonnen, wenn wir den Faktor Arbeit nicht länger geradezu erdrosseln würden, wenn es gelänge, die permanente Drift von der Arbeit zur Energie zu stoppen oder erst einmal auch nur zu verlangsamen. Ein wichtiger Effekt der ökologischen Steuerreform ist der, daß Reparaturen, die aufgrund der hohen Arbeitskosten bisher gegenüber dem Kauf eines neuen Gerätes oft nicht konkurrenzfähig waren, wieder rentabel werden; dies ist auch ein bedeutsamer Beitrag zur Überwindung unserer Wegwerfmentalität. Der größte Arbeitsplatzeffekt aber wird wohl von den eingangs besprochenen Innovationen in die Nutzung der regenerativen Energien und in eine rationelle Energieverwertung ausgehen.
Man hört oft mit abfälligem Unterton, die Einnahmen aus der Ökosteuer würden ja änur“ zum Stopfen der Löcher in den Rentenkassen verwandt. Dies verkennt jedoch, daß es gerade das Ziel dieser Reform ist, die Finanzierung der scheinbar unbezahlbar gewordenen Sozialversicherungssysteme wieder auf eine sichere Grundlage zu stellen, indem man hierzu jeden Produktionsfaktor gemäß seiner Leistungsfähigkeit heranzieht, die für die Energie nun einmal um ein Vielfaches höher ist als für den Faktor Arbeit.
Ebenso wird der ökologischen Steuerreform immer wieder vorgeworfen, sie sei unsozial, treffe vor allem die äkleinen Leute“, führe dazu, daß Autofahren zum Luxus werde etc. Das Gegenteil ist richtig: Die ökologische Steuerreform hilft, den sozialen Frieden zu bewahren, indem sie zur Sicherung der Renten und zur Überwindung der Arbeitslosigkeit beiträgt. Die höheren Benzin-, Gas- und Strompreise werden durch sinkende Lohnnebenkosten (und somit steigende Nettolöhne) kompensiert. Wer dennoch - weil er überdurchschnittlich viel Energie verbraucht - unter dem Strich belastet wird, kann dies durch energiesparendes Verhalten ausgleichen. Insofern hat es jeder selbst in der Hand, wie hoch seine Aufwendungen für Energie sind - anders als bei den Lohnnebenkosten, die ja durch individuelles Verhalten nicht beeinflußt werden können. Dabei muß Energiesparen keineswegs mit Einschränkungen und Verlust an Lebensqualität verbunden sein. Es kann z.B. auch den Umstieg auf verbrauchsärmere Autos oder Haushaltsgeräte bedeuten.
Das Standardargument schlechthin gegen die ökologische Steuerreform sind die angeblichen Standortnachteile, die für die deutsche Wirtschaft daraus resultierten. Dieses Argument ist allein schon deshalb nicht stichhaltig, weil die Energiekosten so niedrig sind - durchschnittlich höchstens 5% der Gesamtkosten. Eine Verteuerung im Vergleich mit den Arbeitskosten fällt kaum ins Gewicht. Eine Erhöhung der Energiepreise um 50% hat im Mittel etwa denselben Kosteneffekt wie eine 4%ige Lohnerhöhung. Schlimmstenfalls kann man energieintensiven Branchen für eine gewisse Übergangsfrist eine spezielle Kompensation oder Steuerfreistellung gewähren (wie sie bei der rot-grünen Ökosteuer tatsächlich praktiziert wird), wenngleich dies aus ökologischer Sicht eigentlich unerwünscht ist. (Wie billig Energie tatsächlich ist, illustriert auch folgende Gegenüberstellung: Für Heizzwecke: Strom und Gas wurden 1993 von den privaten Haushalten in Deutschland 75 Milliarden DM ausgegeben, für Kraftstoffe zum Antrieb von Fahrzeugen weitere 60 Milliarden. Dagegen verschlang das Speisen in Restaurants 82 Milliarden, und für Tabak hatten die Deutschen immerhin noch 32 Milliarden DM übrig.)
Vor allem aber stehen bei der ökologischen Steuerreform den Mehrkosten bei der Energie Entlastungen beim Faktor Arbeit gegenüber, so daß sich an der Summe der Faktorkosten nichts ändert. Lediglich die Verteilung ist eine andere. Und der Zwang zum Energiesparen sowie die Verbreitung der regenerativen Energien - die zumindest anfangs von einer Besteuerung ausgenommen werden sollten - können einen gewaltigen Innovationsschub und eine ungeahnte Stärkung des äStandorts Deutschland“ nach sich ziehen. Der nationale Alleingang, bisher Schreckgespenst der Wirtschaftspolitiker aller Länder, könnte sich als großartige Chance erweisen. Das Land gewinnt, das zuerst anfängt. Der Vorwand, man könne sich eine ökologische Steuerreform aus wirtschaftlichen Gründen nicht leisten, ist daher nichts anderes als der Versuch, Ökonomie und Ökologie gegeneinander auszuspielen.
Diese Zusammenhänge einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln - nicht nur zaghaft verschämt darauf hinzuweisen, daß Umweltschutz auch Arbeitsplätze schaffen könne - wird eine der zentralen Aufgaben der Umweltbewegung in den nächsten Jahren sein.