Damit Dinge besser werden, reicht es nicht aus, dass man die Lösungen kennt. Sie müssen auch durchgesetzt werden. Gerade im Verkehrssektor gibt es sehr starke Akteure, die dafür kämpfen, dass alles bleibt, wie es ist. Wäre da nicht eine Verkehrswende-Bewegung, die der offiziellen Politik Beine macht… 

Seit mindestens einem halben Jahrhundert ist die Verkehrswendebewegung aktiv, wobei es am Anfang weniger um Fragen des Klimaschutzes ging, als mehr um Belange der nahräumlichen Umweltverschmutzung und des Lärms, der sozialen Gerechtigkeit und der Aufenthaltsqualität in den Städten. Alle diese Aspekte sind auch heute noch aktuell. Und so vielschichtig wie die Probleme unseres Verkehrssektors immer noch sind, so divers ist auch die Verkehrswende-Bewegung und ihre Aktionsformen.


Mit Gehzeugen oder dem weltweit gefeierten „Parking-Day“ wird gegen den Raum protestiert, den Autos und Parkplätze in den Städten einnehmen (Abb. 2 und 6). In vielen Orten findet einmal im Monat eine sogenannte „Critical Mass“ statt, um auf die Benachteiligung anderer Verkehrsteilnehmer:innen auf den Straßen hinzuweisen. Auf Fahrrädern, Skateboards, Cityrollern oder anderen nichtmotorisierten Gefährten wird die Straße dabei mit Musik und viel Klingelei zurück „erobert“. Und seit ein paar Jahren ploppen über Nacht selbst gemalte „Pop-Up“-Radwege auf den Straßen auf, wo es noch keine Fahrradwege gibt. 2015 wurde mit dem „Volksentscheid Fahrrad“ in Berlin eine bessere Fahrradinfrastruktur eingefordert. Die erfolgreiche Kampagne war auch die Geburtstunde der „Changing Cities“-Bewegung und hat etliche Radentscheide in anderen Städten ausgelöst. [1]


Das Thema der fehlenden Inklusion in Bezug auf Mobilität wird aus mehreren Perspektiven kritisiert. Die Gruppe „Rollfender Widerstand“ kämpft für eine bessere Infrastruktur und Rücksichtnahme für Menschen mit gesundheitlichen und körperlichen Einschränkungen in den öffentlichen Verkehrsmitteln (vgl. Seite 30 in diesem Heft). Gegen die hohen Kosten des ÖPNV haben Klimaaktivisten aus dem Fahren ohne Fahrschein eine medientaugliche Aktionsform entwickelt, das „Aktionsschwarzfahren“, welches auch vor Gericht verteidigt wird. Der „Freiheitsfond“ wurde eingerichtet, um inhaftierte Schwarzfahrer frei zu kaufen. Nach einer Show von Jan Böhmermann zu dem Thema kamen knapp 70.000 Euro zusammen. Nach dem Ende des 9-Euro Tickets wurde ein weiterer Fond, der 9-Euro Solifond, ins Leben gerufen. Die Idee: Alle zahlen 9 Euro monatlich in den Fond und nutzen weiterhin den lokalen öffentlichen Nahverkehr. Wird man erwischt, wird das Strafgeld aus dem Fond refinanziert. [2]


Wegen der Kritik an neuer Auto-Infrastruktur, Flächenversiegelung und insbesondere dem Bau neuer Autobahnen (Deutschland hat das dichteste Fernstraßennetz in Europa), werden seit Jahrzehnten immer wieder große Bündnisse zwischen lokalen Anwohner:innen, Klimaaktivist:innen und NGOs geschlossen. Teilweise kommt es zu Protestcamps und Waldbesetzungen, wie zuletzt im Dannenröder Wald „Danni“ und dem Stopp A 14-Camp „Moni” in Sachsen-Anhalt, sowie aktuell gegen den Südschnellweg bei Hannover, die A 20 Küstenautobahn, die A 26 Ost bei Hamburg, der A 33 Nord bei Osnabrück und im Fechenheimer Wald bei Frankfurt gegen den Ausbau der A 66. [3]

Chris Grodotzki_2

Abb 1 — Große Verkehrswende-Demo anlässlich der Internationalen Automobilausstellung in München. Foto: Chris Grodotzki CC BY-NC 2.0 . 

Während das Netzwerk „Wald-statt-Asphalt“ und die Gruppe „Sand im Getriebe“ den Autoverkehr und die Automobilkonzerne im Blick haben, fokussieren Aktivist:innen von „Am Boden bleiben“ auf den klimaschädlichen Flugverkehr und den Ausbau von Flughafeninfrastruktur. Auch andere Gruppen, wie die Scientist Rebellion, sind hier aktiv: am 10.11.2022 wurden europaweit mehrere Privatjet-Terminals (GAT) unter anderem in Italien, Schweden, Niederlanden und Deutschland anlässlich der COP 27 blockiert. Auch beim Ausbau von Flughäfen gibt es immer wieder lokalen Protest. [4]


Dazu sind unzählige NGOs zu nennen, wie der VCD, ADFC, Greenpeace, BUND, DUH, Rettet den Regenwald, Robin Wood, NABU oder attac, die sich wiederum seit Jahrzehnten mit Kampagnen, Petitionen, Klagen, Gutachten und direkter Politikbeeinflussung für eine nachhaltige Verkehrswende einsetzen. Dabei wird auch zu Themen wie Ressourcenabbau, Lieferkettengesetz, Frachtverkehr oder der Macht der Automobilkonzerne gearbeitet – die Probleme des Verkehrssektors sind weitreichend! 

Aktionsformen

Global denken, lokal handeln


Was viele Akteur:innen der Verkehrswende-Bewegungen vereint, ist die Kritik an den lokalen und globalen Praktiken der großen Player der Automobil- und Mineralölindustrie. Die Ungerechtigkeiten, die durch den Verkehrssektor des globalen Nordens verursacht werden, stehen immer wieder im Mittelpunkt der Debatte. Sei es wegen der direkten Folgen des Ressourcenabbaus für die Produktion „unserer“ PKWs und LKWs, sowie der benötigten Kraftstoffe. Oder indirekt durch den Klimawandel, für den der Verkehr zu ca. 25% mitverantwortlich ist, und dessen Folgen vor allem ärmere Menschen zu tragen haben. [5]

Dass die Verkehrsbewegung mindestens so alt ist wie die Anti-Atom-Bewegung, wird am Beispiel Shell deutlich. Hieß es in den 90ern noch “Shell to Hell”, gibt es seit 2020 mit der Kampagne „Shell must fall“ erneut ein Revival gegen den Mineralölkonzern. Doch was ist das Fazit? Seit 40 Jahren wird gegen die Machenschaften von Shell - wie die Zerstörung des Niger-Deltas - gekämpft und heute ist Shell immer noch da. Mit einem Rekordgewinn im dritten Quartal 2022 von 9,5 Milliarden Dollar, dem zweitbesten Quartalsergebnis der Firmengeschichte. [6] 

Auch die Macht der Automobilkonzerne scheint ungebrochen. Der Danni wurde trotz Protest geräumt und gerodet, die A 49 befindet sich im Bau. Ebenso erging es der Waldbesetzung Moni gegen den Bau der A 14. Der öffentliche Nahverkehr ist in vielen Bundesländern wieder teurer geworden, und ein 9-Euro Ticket war kein Erfolg der Bewegung, sondern Resultat der Ukrainekrise. Sind die Mühen der Bewegung für die Katz? 

Ohne Bewegung keine Mobilitätswende


Absolut nicht. Viele Beiträge, über die wir in diesem Heft schreiben, wären ohne die Mobilitätswende-Bewegung gar nicht zustande gekommen. Konzepte für menschen- statt autogerechte Städte, Forderungen nach Radwegenetzen, Aufdecken von Greenwashing und Appelle, dass die Verkehrswende nicht zu einer Antriebswende verkümmert – die Bewegung hat viele Themen überhaupt erst in die Öffentlichkeit und auf die politische Agenda gebracht und dort teilweise auch umsetzen können. 

Glauben Sie, Tesla hätte freiwillig an der Entwicklung einer kobaltfreien Batterie gearbeitet – ohne den Protest? Wäre der Diesel-Skandal je in die Öffentlichkeit gelangt? Hätte es ein Nachfolgeticket für das 9-Euro-Ticket gegeben? Wüssten wir über die Ressourcenprobleme bei E-Auto-Batterien Bescheid? Auch wir beim SFV profitieren von den radikalen Diskursen und Debatten aus der Bewegung.


Dabei darf man nicht vergessen, dass die Mobilitätswende-Bewegung den wohl größtmöglichen Lobbyzusammenschluss zum Gegner hat: Automobilindustrie, Luftfahrt- und Mineralölkonzerne. Mehr David-gegen-Goliath geht gar nicht! 

Angesichts dieser Tatsache ist das 2021 verkündete Klimaurteil gegen Shell ein riesiger Erfolg, der auch auf die Bewegung zurückzuführen ist: Ein Gericht in Den Haag hat den Konzern dazu verpflichtet, seine Emissionen bis 2030 um netto 45 Prozent im Vergleich zu 2019 zu reduzieren. 


Dass auch die Gewerkschaften tendenziell auf der Seite der Konzerne stehen, ist logisch, angesichts der vielen Arbeitsplätze, die an dem klimaschädlichen Verkehrssystem hängen. Auch hier setzt die Bewegung an. Fridays for Future hat letztes Jahr den ersten Schulterschluss mit Verdi für bessere Arbeitsbedingungen und den Ausbau des ÖPNVs angestoßen. Und die Gruppe Klimaschutz und Klassenkampf hat gemeinsam mit der Belegschaft für eine klimafreundliche Umstrukturierung eines auf Einspritzventile für Dieselmotoren spezialisierten Bosch-Werk gekämpft (siehe Beitrag im SB 02/2022). 


Aber nicht nur wegen der Arbeitsplätze ist die Mobilitätswende ein Thema mit Spaltungspotenzial. Der motorisierte Individualverkehr gilt in Deutschland immer noch als Garant für Freiheit und Unabhängigkeit, genauso wie die Möglichkeit, mit 200 km/h über die Autobahn zu rasen und fürs Wochenende durch Europa zu fliegen. Und auf dem Land fehlt es schlichtweg an Alternativen zum eigenen PKW. Der Verkehr ist ein sensibles Thema, das haben auch die Aktivist:innen der “Letzten Generation” erkannt. Genau deswegen kleben sie sich mit ihren Händen auf die Straßen, Autos oder Flughafenterminals – auch wenn es ihnen nicht nur um die Mobilitätswende, sondern um unzureichende Klimaschutzmaßnahmen in allen Sektoren geht. Selten gab es so viel Aufmerksamkeit für eine Protestform. Der Aufschrei, wenn der motorisierte Individualverkehr eingeschränkt oder unterbrochen werden soll, ist aber nicht nur angesichts der Letzten Generation groß. Auch bei der Entstehung von Fußgängerzonen (seit nunmehr 60 Jahren) und bei Kampagnen für autofreie Kieze oder die Superblocks in Barcelona gab es enorme Widerstände aus Politik und Bevölkerung. Bei überfüllten Autobahnen und Fernstraßen ist es noch immer eine gängige Forderung und Maßnahme, neue Autobahnen zu bauen oder bestehende um weitere Spuren zu erweitern. 


Dabei sollte eines doch mittlerweile klar sein: One more lane will not fix it. Wenn wir Autoinfrastruktur ausbauen, ernten wir letztlich mehr Autos. Bauen wir stattdessen die Fahrradinfrastruktur und den ÖPNV aus, werden wir mehr öffentlichen und nichtmotorisierten Verkehr bekommen. Diese zweite Möglichkeit durchzusetzen, wird auch in Zukunft nicht ohne eine lebendige und vielfältige Mobilitätswendebewegung gelingen.

Lane

CC BY 2.0 by Chis Yarzab

Aktion: Tempolimit Marke "Do-It-Yourself"


Am Samstag, 1. Oktober, haben Aktivist:innen der „Letzten Generation“ auf der Autobahn A2 zwischen Braunschweig und Magdeburg für Aufsehen gesorgt, indem sie mit der vernünftigen Geschwindigkeit von 100 km/h fuhren, und zwar auf allen verfügbaren Fahrspuren. Die Aktion geht auf eine Idee des SFV-Ehrenvorsitzenden Wolf von Fabeck zurück. 


Auf den Autos angebrachte Schilder zeigten die Forderung, dass dieses Tempo, 100 km/h, auf Autobahnen allgemeingültige Regel werden soll. Nach einer Stunde, gegen 12 Uhr, stoppte die Polizei die Aktion und eskortierte die beteiligten Autos zurück nach Braunschweig.


Markus Ott, Sprecher der Gruppe, erklärte: „Wir können nicht weiter tatenlos an der Seitenlinie stehen, während die Regierung uns mit Vollgas in eine unkontrollierbare Klimakatastrophe steuert. Das Tempolimit ist längst überfällig, es schützt nicht nur sehr effektiv vor Unfällen und hohen Tankrechnungen, sondern trägt auch zum Schutz vor fossilen Autokraten und vor einer Klimakatastrophe bei. […] da Herr Wissing sich weigert, diesen Schutz zu geben, stehen wir in der Verantwortung, das selbst zu tun.“


Diese Wahrheiten sind kaum zu bestreiten. Aber in den „sozialen Netzwerken“ wurde die Tempo-100-Aktion u.a. als „kriminell“ bezeichnet, für die Beteiligten „Fahrverbot bis ans Ende aller Tage“ gefordert oder gar: „ihr solltet alle weg gesperrt werden“.  Es wäre vermutlich besser, solche Erregung auf das Problem der Klimakatastrophe zu richten, als auf die Versuche, sie einzudämmen.

Mehr Infos zur Aktion unter: 
 

https://braunschweig-spiegel.de/letzte-generation-setzt-auf-der-a2-selbst-das-tempolimit-um/

Tempolimit

Quellen und weitere Infos 

 

Alle Quellen wurden im Text über Direktlinks eingefügt.