Maroder Reaktor Tihange 2
Äußere Betonhülle des maroden Reaktorbehälters Tihange 2 in Huy, Belgien, 60 km von Aachen entfernt, Foto: Robert Schallehn

 

Am 7. Februar hat die belgische Atomaufsicht FANC die Berichte zu den Fehlstellen in den Reaktoren Doel 3 und Tihange 2 veröffentlicht. Diese Berichte enthalten offene Fragen und weisen auf die fehlenden Nachweise zur strukturellen Integrität hin. Trotzdem kommt die belgische Atomaufsicht FANC zum Schluss, dass „ ... es keine Gründe gibt, den Reaktor definitiv abzuschalten.“

Im Sommer 2012 wurden in den beiden Reaktoren Tihange 2 und Doel 3 tausende von Fehlstellen gefunden. Im Reaktor Tihange 2 befinden sich mehr als 2.000 und in Doel 3 weit mehr als 8.000 Fehlstellen. Sie besitzen eine Größe von bis zu 2,4 cm und sind durchschnittlich 1 cm groß. Seit diesen Funden stehen die beiden Reaktoren still, aber der Betreiber und die belgische Atomaufsicht setzen alles daran die beiden Reaktoren wieder ans Netz zu bekommen.

Fehlstellen an Tihange 2
 

Anfang Februar diesen Jahres wurden nun die Berichte von Betreiber Electrabel, der nationalen und internationalen Experten-Kommission sowie der FANC selbst veröffentlicht. Diesem öffentlich autorisierten Dokument ist folgendes zu entnehmen:

  • Die Herkunft der Risse kann nicht nachgewiesen werden.
  • Die Struktur der Fehlstellen kann nicht nachgewiesen werden.
  • Die Herstellerdokumentation ist unvollständig und widersprüchlich.
  • Den Gutachtern liegt kein Original-Testmaterial der Reaktordruckbehälter vor. Stattdessen wird Testmaterial verwendet, das weder den Alterungsprozess (Neutronenbeschuss und thermische Belastung) erlitten hat, noch von der gleichen Legierung ist.
  • Das bei den Reaktordruckbehältern eingesetzte Ultraschallverfahren ist nicht validiert.
  • Der Nachweis der strukturellen Integrität der Reaktordruckbehälter berücksichtigt keine Alterungserscheinungen durch thermische Belastung und Neutronenbeschuss.
  • Der Nachweis der strukturellen Integrität der Reaktordruckbehälter ist nach zugrundeliegendem Standard gescheitert.

Der Betreiber Electrabel empfiehlt als Konsequenz unter anderem bereits im Normalbetrieb die Belastungen der Reaktoren zu reduzieren. So soll z.B. der Neutronenbeschuss reduziert und der Reaktor langsamer hoch- und wieder runtergefahren werden.

Zusätzlich zu den gefundenen Defekten im Reaktordruckbehälter stellt sich die Frage, ob die der Neutralität verpflichtete belgische Atomaufsicht FANC bei der Bewertung dieser Fehler überhaupt unabhängig ist.

Seit Jahresbeginn ist Jan Bens oberster Leiter dieser Aufsichtsbehörde.

Schon während des Baus vom Doel 3 war allerdings genau dieser beim Betreiber Electrabel im Bereich Betrieb und Sicherheit beschäftigt. Im Anschluss war er sogar Leiter des Atomkraftwerks Doel.

Im Jahr 2007 wechselte er zur WANO (World Association of Nuclear Operators). Die WANO ist die internationale Interessenvertretung der Atomkraftbetreiber. „Mit Jan Bens hat man den Bock zum Gärtner gemacht“ fasst Inge Gauglitz vom Aachener Aktionsbündnis gegen Atomenergie diese Interessenskonflikte zusammen.

Durch die Katastrophen von Fukushima im März 2011 wurden weltweit Menschen aufgerüttelt und auf verschiedenen Ebenen hat sich Widerstand gegen die Atomkraftwerke erneut entwickelt.

So haben sich auch im Dreiländereck (Belgien – Deutschland – Niederlande) Anti-Atomkraft-Gruppen gebildet, aus denen sich inzwischen eine grenzübergreifende Zusammenarbeit entwickelt hat. Gemeinsam wurde im September 2011 eine internationale Demonstration direkt am AKW-Tihange mit 1500 Teilnehmern organisiert. Am „Fukushima-Tag“ 2012 gab es dann eine große internationale Demo von knapp 2000 Atomkraft-GegnerInnen in Brüssel und am 10. März 2013 steigerte sich die Teilnehmerzahl auf 2500 bei der diesjährigen internationale Demo am AKW Tihange.

Neben dem Protest haben sich diese Gruppen zusätzlich intensiv mit den technischen Problemen der AKWs in Tihange befasst. Mit der Unterstützung von namhaften Experten wurde der belgischen Atomaufsicht ein Fragenkatalog mit 48 Fragen übergeben. Nachdem die belgische Atomaufsicht zunächst jede Kommunikation mit Deutschen ablehnte, beantwortet man mittlerweile nach öffentlichem Druck zumindest zögerlich die Fragen. Inzwischen verfolgen die Medien in allen drei Ländern aufmerksam diesen Konflikt. Auch dies dürfte nicht zuletzt dafür verantwortlich sein, dass die maroden Reaktoren Doel 3 und Tihange 2 immer noch abgeschaltet sind.

Auch Experten nehmen zunehmend kritisch Stellung zu der Situation in den Atomreaktoren von Doel 3 und Tihange 2. So äußerte sich jüngst die französische Atomaufsicht, die bekanntermaßen sicher kein Gegner der Atomkraft ist, sehr kritisch zum Zustand der Reaktoren.
Den größten Ausschlag beim Meinungsumschwung haben aber vermutlich die Äußerungen von Dieter Majer bewirkt. Er ist ausgewiesener Experte für Fragen der Sicherheit von kerntechnischen Anlagen und leitete 13 Jahre die Aufsicht über kerntechnische Einrichtungen in Deutschland. Zur Situation in Tihange 2 befragt, lautete sein Kommentar im Fernsehen: „All das deutet darauf hin, dass die Verantwortlichen der Meinung sind, dass die Anlage nicht mehr in einem sicheren Zustand ist.“

Er wurde dann im weiteren befragt, ob es wirklich so schlimm sei, wenn einige Unterlagen aus der Bauphase eines AKWs fehlen würden. Darauf betonte er, dass man ‚Qualität‘ nicht in ein Bauteil hinein prüfen könne, falls bei der Herstellung nicht ausreichend dokumentiert wurde. „Hier muss man auf die Herstellungsdokumentation vertrauen. Und wenn man die nicht hat, dann kann man nur sagen, da haben wir ein Riesenproblem. Ich hatte einen Fall in dem deutschen Atomkraftwerk Biblis, wo wir eine Komponente rausgeworfen haben, nachdem die Dokumentation widersprüchlich war.“

Zusammenfassend sagt Dieter Majer: „Man muss feststellen, dass ein Wiederanfahren der beiden Reaktoren nach der uns zur Verfügung stehenden Aktenlage nicht zu verantworten ist.“


Zu den Autoren:
Jörg Schellenberg und Walter Schumacher sind Mitglieder im „Aachener Aktionsbündnis gegen Atomenergie“ (http://www.anti-akw-ac.de) und dem internationalen Bündnis „Stop Tihange“ (http://www.stop-tihange.org)