Zur besonderen Gefährlichkeit der Neutronenstrahlung

Anläßlich einer Veranstaltung „Umweltkrise und medizinische Wissenschaft" in der Evangelischen Akademie Lokkum vorgetragen

Von Rolf Bertram

Bei der Kernspaltung, bei der Kernfusion und bei anderen Kernreaktionen werden Neutronen unterschiedlicher Energie emittiert. Als elektrisch neutrale Atomkernbausteine vermögen sie tief auch in feste und flüssige Stoffe einzudringen. Beim Durchgang durch Materie werden schnelle Neutronen auf die Geschwindigkeit thermischer Neutronen abgebremst („thermalisiert"). Die Bremsung durch Stöße mit Atomen (elastische Streuung) verursacht in der Nähe der Bahnspur eine hohe Ionisationsdichte. Die von den abgebremsten Neutronen getroffenen Atome eines beliebigen Materials werden überwiegend radioaktiv (Aktivierung). Die Aktivierungsrate hängt vom Neutronenfluß und von der Art der getroffenen Atome ab. Dringen Neutronen in organismisches Gewebe ein, so wird dieses unvermeidbar zu einer radioaktiven Strahlenquelle. Die bei der Aktivierung gebildeten Radionuklide (Produktkerne) sind noch lange Zeit nach der Neutronenbestrahlung nachweisbar. Im neutronenbestrahlten Gewebe werden diverse Radionuklide unterschiedlicher Aktivität und Halbwertszeit erzeugt. Dabei ist zu unterscheiden zwischen der während einer Kernumwandlung emittierten Strahlung (meist Gamma) und der Strahlung durch die dem radioaktiven Zerfall unterliegenden Produktkernen. In jedem Fall tritt Ionisation und Radikalbildung auf. Bei den durch Neutronen ausgelösten Kernreaktionen werden in submikroskopischen Bereichen Energiebeträge zwischen 100 und 1000 eV übertragen, die bei weitem die Bindungsenergien in einem Biomolekül übersteigen. Dieser Transfer hoher Energiebeträge auf engstem Raum löst eine kaskadenartige Ionisation und in der Regel ein Zerplatzen des Biomoleküls aus ( AUGER-Explosion). Zusätzlich treten durch Rückstoßeffekte hochionisierte Radikale mit ungewöhnlicher Reaktivität und Schadensdichte auf (Hot Atom Chemistry, abgekürzt HAC). Neutronen wirken nicht nur ionisierend sondern auch molekülzerstörend.

Die Kenntnisse über die dabei ablaufenden radiochemischen, kernchemischen und thermochemischen Reaktionen sind selbst für einfache Molekül-Systeme noch sehr lückenhaft. Die meisten Prozesse der HAC in kondensierter Phase werden zur Zeit noch nicht verstanden. Über die Schadmechanismen der Primär- und Folgevorgänge an Biomolekülen (in vivo) unter dem Einfluß von Neutronenstrahlung weiß man praktisch nichts.

In einer von Neutronen getroffenen Körperzelle kommt während und nach der Neutronenbestrahlung ein unüberschaubares Gemisch ionisierender Strahlen zur Wirkung. Die Folgen für biochemische Reaktionen und biomolekulare Strukturveränderungen sind gegenwärtig völlig unklar. Die physiologischen, histologischen und cytologischen Folgewirkungen sind im einzelnen wenig, ihr Zusammenwirken überhaupt nicht erforscht. Die Empfindlichkeit von Biomolekülen kann u.a. am Hämoglobin gezeigt werden, das eine komplexe Molekülstruktur aus 574 Aminosäuren darstellt. Sitzt an nur einer von den 574 Stellen eine durch Strahlung deformierte Aminosäure, so führt das für den Träger bekanntlich zur Sichelzellenanämie.

Ein intaktes lebendes System stellt eine sehr komplizierte und dynamische Struktur dar. So sind z.B. die Nukleinsäuren (RNS, DNS) und andere hochmolekulare Eiweißverbindungen (Molekulargewicht bis 100 Mio) nur im Zusammenhang mit ihren biologischen Funktionen zu definieren. Subzelluläre Strukturen sind energetisch und stofflich so aufeinander abgestimmt, daß zusätzliche Energiezufuhr und stoffliche Veränderungen die lebensnotwendigen Abläufe (z.B. Stoffwechsel) empfindlich stören.

Bei der Festsetzung der Grenzwerte und Zusatzfaktoren (z.B. RBW) durch die Strahlenschutzgesetzgebung sind die herkömmlichen, strahlendosimetrischen Verfahren und Kalkulationen völlig ungeeignet.