Ein Grund zu feiern

 

Am 15. April 2023 konnten wir endlich die Abschaltung der letzten deutschen Atommeiler feiern. Dies war ein guter Tag für die Energiewende, weil

  • die stets drohende Unfallgefahr laufender Kernspaltungsanlagen bis hin zum Super-GAU damit ein Ende gefunden hat;
  • die Belastung hunderter kommender Generationen mit dem ungelösten Problem des Strahlenmülls nun wenigstens nicht noch weiter gesteigert wird;
  • eine Technologie, die besonders schlecht zu den Erneuerbaren Energien passt, weil die Anlagen in ihrer Leistung sehr schlecht regelbar sind, nun endlich aus dem Stromerzeugungsmix herausgenommen wurde;
  • die Probleme großer zentraler Erzeugungsanlagen (Anfälligkeit für Blackouts, Reichweite der Wirkungen von Sabotage, Terrorismus und Krieg, undemokratische Entscheidungsstrukturen) dadurch gemildert werden können.
  • unsere Stromversorgung damit resilienter wird. Denn der Kühlwasserbedarf, der bei zunehmender Erderhitzung und Verödung der Flüsse immer häufiger nicht mehr gedeckt werden kann, sorgt, wie zuletzt in Frankreich, für massenhafte Abschaltungen von Atomkraftwerken. Dieses Problem haben übrigens Kohle- und Atomkraftwerke gemeinsam. Dass die drei nun abgeschalteten Meiler ihrerseits keine große Rolle für die Versorgungssicherheit spielten, zeigte sich in der Woche ihrer Abschaltung: diese hatte keine nennenswerte Auswirkung auf die Nettostromerzeugung in Deutschland, und der Börsenstrompreis zeigte keinerlei Reaktion.

Viele Gründe, warum wir die Anti-Atom-Bewegung trotzdem weiter brauchen

 

Es ist allerdings grob irreführend, wenn nun davon gesprochen wird, der Atomausstieg in Deutschland sei mit diesen Kraftwerksabschaltungen beendet. Tatsächlich ist gerade einmal der halbe Weg geschafft, und es lauern neue Gefahren. Vor der Politik liegen noch mehrere größere Aufgaben, bevor man den Atomausstieg wirklich für beendet erklären kann. Nachfolgend zählen wir die wichtigsten auf.
 

Weiterlaufende Atomanlagen


Nach wie vor ist in Gronau (NRW) eine Urananreicherungsanlage und in Lingen (Niedersachsen) eine Brennelementefabrik in Betrieb. Diese Fabriken erzeugen einen beträchtlichen Anteil des weltweiten Bedarfs an Kernbrennstoff für solche Atomkraftwerke, die nach den regelmäßigen Aussagen deutscher Politiker:innen doch noch unsicherer sein sollen als die nun abgeschalteten deutschen.[1] Seit wenigen Wochen ist bekannt, dass in Lingen nun der staatliche russische Atomkonzern Rosatom durch ein Joint Venture beteiligt ist – mitten im Angriffskrieg auf die Ukraine.[2] Wir haben seit mindestens 2011 darauf hingewiesen, dass ein „Atomausstieg“ diesen Namen nur verdient, wenn auch die Anlagen in Lingen und Gronau abgeschaltet werden.[3]
 

Mitgliedschaft in internationalen Atom-Organisationen


Nach wie vor ist Deutschland Mitglied internationaler Organisationen wie Euratom und der Internationalen Atomenergie-Organisation IAEO, deren ausdrückliches Ziel die Förderung der Atomenergie ist. Deutschland zahlt beträchtliche Geldsummen, damit dieses verantwortungslose Ziel auf globaler Ebene weiterverfolgt wird. Überdies sind diese Organisationen jeglicher demokratischen Kontrolle vollständig enthoben. Die Behauptung, dass man in ihren Gremien im Sinne der deutschen Ausstiegspolitik wirken könne[4], lässt sich unseres Wissens nicht bestätigen; insbesondere richtet das deutsche Verbleiben in diesen Organisationen nichts gegen die verantwortungslose Atompolitik der Nachbarländer Frankreich, Belgien, Niederlande, Tschechien und Polen aus.[5]
 

EU-Taxonomie


Die 2020 beschlossene EU-Taxonomie für nachhaltige Finanzprodukte hat skandalöserweise die Atomenergie in den Rang einer „nachhaltigen“ Energieform erhoben – ein Vorgang, der an Zynismus kaum zu überbieten ist. Deutschland hatte dieser französischen Idee im Rahmen eines Kuhhandels zugestimmt: Gleichzeitig wurde auch fossiles Erdgas in die Liste aufgenommen, weil die deutsche Regierung ihre Energiepolitik bekanntlich maßgeblich auf den Import billigen russischen Erdgases abgestellt hatte.
Mit dieser Verordnung werden Investitionsmittel (auch aus Deutschland) von den Erneuerbaren Energien abgezogen und in die schmutzigsten Energieerzeugungsarten gelenkt. Zugleich dient sie vielfältig einer Forcierung der von manchen ersehnten europäischen Atomrenaissance – etwa im Zuge der Wasserstoffoffensive: Am 10. Februar 2023 hat Frankreich auf europäischer Ebene durchgesetzt, dass als „Grüner Wasserstoff“ auch solcher gelten soll, der unter Verwendung von Atomstrom erzeugt wurde.[6] Ein Skandal zeugt den nächsten, und das mächtigste EU-Mitglied Deutschland mit seiner Grünen Außenministerin lässt es geschehen. Erst wenn dies gestoppt und die zynischen EU-Entscheidungen rückgängig gemacht werden, ist auch der deutsche Atomausstieg komplett.
 

Gefahr des Wiedereinstiegs


Durch eine massive Kampagne, die bereits vor dem Ukraine-Krieg einsetzte[7], wurde der Boden bereitet für Forderungen nach einem Wiedereinstieg in die teure Höchstrisiko-Technologie.[8] So äußerte der FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai unmittelbar vor der Abschaltung der letzten drei deutschen Meiler: "Die Kernenergie muss auch nach dem Ausstieg eine Zukunft in Deutschland haben".[9] Djir-Sarai vertritt eine immerhin an der Bundesregierung beteiligte Partei. Neue Milliarden-Investitionen in diese gefährliche Sackgassen-Technologie stellen also ein denkbares Szenario der Zukunft dar. Allerdings stoßen derartige Pläne in der Energiewirtschaft kaum auf Gegenliebe.[10] Dennoch müssen wir hier weiter wachsam sein.
 

Chimäre Kernfusion


Die Freunde riesiger, ultra-teurer Energieerzeugungsanlagen haben noch ein weiteres „Ass“ im Ärmel: die Kernfusion. Der SFV hat sich bereits im vorigen Jahrhundert mit dieser Technik auseinandergesetzt.[11] Seitdem wurden immer wieder Meldungen über „Durchbrüche“ bei der Entwicklung der Kernfusion in den Medien lanciert; zuletzt im Dezember 2022. Schaut man genauer hin, wurde auch bei jenem „Durchbruchs“-Experiment am US-amerikanischen "Lawrence Livermore National Laboratory" ein Vielfaches der Energie hineingesteckt, die am Ende herauskam, und die von Witzbolden erkannte „Fusionskonstante“ ist nach wie vor gültig, wonach seit über einem halben Jahrhundert die energiewirtschaftliche Nutzung der Kernfusion stets genau 30 Jahre in der Zukunft liegt.[12]
Zwei fundamentale Argumente sprechen für eine sofortige Beendigung der weiteren Arbeit an dieser technologischen Chimäre:
1) Angesichts der Klimakatastrophe, die jetzt abläuft und eine sofortige Dekarbonisierung der Energieerzeugung erheischt, ist eine Technik, die möglicherweise nie, bestenfalls aber in 30 Jahren verfügbar ist, nutzlos. Die Milliardenbeträge, die in die Erforschung der Kernfusion gesteckt werden, fehlen bei der Bekämpfung der Klimakatastrophe. Die Technologien, welche eine rasche Dekarbonisierung ermöglichen, sind bekannt und erprobt; vorhandene Gelder sollten in deren Implementation investiert werden.
2) Mit der Kernfusion soll das Energiesystem in den Händen jener Akteure belassen werden, die die Krise herbeigeführt haben. Es ist ein verzweifelter Versuch, die Dezentralisierung der Energieerzeugung zu stoppen und Konzerne bzw. Staaten an den Schalthebeln zu belassen. Auch wenn es bei dieser Technik nicht zu einer unkontrollierbaren Kettenreaktion kommen kann, teilt sie doch alle anderen Probleme, die am Anfang dieses Beitrags über die Kernspaltungs-Kraftwerke aufgezählt wurden. Als zusätzliches bzw. gesteigertes Zentralismus-Problem ergibt sich zudem, dass die Frage der Verfügung über diese Technologie im globalen Maßstab Abhängigkeiten verschärfen wird, denn eine Teilhabe an dieser Technologie können sich nur die finanzstärksten Player leisten. Die Fusionstechnik würde daher die Problematik des Neokolonialismus verschärfen.
 

Fazit


Es gibt also noch sehr viel zu tun für die Anti-Atomkraft-Bewegung, die ja nicht zufällig große Schnittmengen mit der Klimaschutzbewegung aufweist. Kohle und Atom sind Aspekte desselben Systems; sie werden von denselben Akteuren verteidigt, welche ihren Profitinteressen das Überleben der Menschheit unterordnen. Denen gilt es insgesamt das Handwerk zu legen.

 

 

Nachweise


Titelbild: Das Atomkraftwerk Isar. Der Block 2 (rechts im Bild) wurde am 15.4.2023 abgeschaltet. CC BY-SA 3.0 Uwekohlmaier


[1] So äußerte sich z.B. der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki noch im April 2023: https://www.tagesspiegel.de/politik/weltweit-modernste-und-sicherste-kraftwerke-kubicki-kritisiert-akw-aus-als-dramatischen-irrtum-9643436.html. Man liest dieses ideologische Statement auch aus der Feder von Redaktionen, vgl. https://www.saechsische.de/politik/deutschland/innenpolitik/energiewende/atomausstieg-deutschland-energiewende-zukunft-kernkraftwerke-kommentar-5846118.html; und es ist geradezu ein Mantra in vielen Leserbriefspalten, Social-Media-Kommentaren und Stammtischgesprächen. Dass die deutschen AKWs auch im internationalen Vergleich nicht sonderlich gut abschnitten, war jedoch schon 2012 durch einen EU-weiten „Stresstest“ nachgewiesen worden: https://www.tagesschau.de/inland/akwstresstest-ts-102.html. Aber selbstverständlich ist es richtig (und leider empirisch erwiesen!), dass auch die AKWs in anderen Ländern extreme Gefahrenpotenziale bergen.

[2] https://taz.de/Brennelementfabrik-in-Lingen/!5921645/ 

[3] Vgl. https://www.sfv.de/artikel/atomausstieg__was_kann_die_regierung_tun

[4] Vgl. z.B. Deutscher Bundestag, Drucksache 17/11713, S.6 (Statement des Sachverständigen Rechtsanwalt Frank-J. Scheuten); https://dserver.bundestag.de/btd/17/117/1711713.pdf.

[5] Siehe Fußnote 3, sowie https://www.sfv.de/artikel/euratom_die_maechtige_kernindustrie_und_ihre_deutschen_regierungsparteien_ .

[6] Vgl. https://www.euractiv.de/section/energie/news/sieg-fuer-frankreich-bruessel-macht-atomstrom-wasserstoff-gruen/

[7] Vgl. https://www.sfv.de/windkraft-verhinderer-jammern-ueber-energieknappheit. Vgl. auch schon https://www.freitag.de/autoren/ruediger-haude/atom-oder-kohle-weder-noch

[8] Vgl. die demoskopischen Angaben bei https://www.tech-for-future.de/atomkraft-umfrage/. Hier ist zwar davon auszugehen, dass die zitierten Umfragen durch manipulative Fragestellungen verzerrte Ergebnisse erbracht haben; eine Verschiebung in der Akzeptanz von Atomanlagen ist jedoch durchaus plausibel.

[9] https://www.tagesschau.de/inland/atomkraftwerke-stilllegung-101.html

[10] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/atom-ausstieg-enbw-kohle-erneuerbare-energien-100.html 

[11] https://www.sfv.de/lokal/mails/sj/kernfusi

[12] Vgl. https://www.swr.de/wissen/kernfusion-keine-schnelle-loesung-fuer-energieproblem-100.html