Wir haben heute über tausend Bürgerinitiativen in ganz Deutschland, insbesondere auch dort, wo grüne Ministerpräsidenten und Umweltminister Verantwortung tragen“ – Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) [1].

Zu Recht beklagen das [600 Meter Abstand bei einer Anlagengröße von 250 Metern] Tausende Bürgerinitiativen.“ – Jens Koeppen (CDU), Mitglied im Ausschuss für Energie des Bundestages [2].

Mit diesen Worten begründeten Bundeswirtschaftsminister Altmaier und MdB Jens Koeppen ihre Forderung nach Mindestabständen für Windenergieanlagen – Mindestabstände, die einen weiteren Ausbau der Windenergie an Land in Deutschland effektiv unmöglich machen [3]. Und sie haben ja scheinbar gute Gründe für diese Annahme – immerhin behauptet die Internetseite windwahn.com stolz: „Momentan sind 1131 Initiativen und Verbände auf der Karte verzeichnet“ [4]. Und auch die Internetseite vernunftkraft.de führt eine solche Karte, wenn auch ohne eine Gesamtzahl anzugeben [5].

Stellt sich allerdings die Frage: Sind diese beiden Quellen überhaupt seriös? Wie viele unterschiedliche Bürgerinitiativen sind auf diesen Karten denn tatsächlich eingetragen? Wie viele dieser Einträge sind Dopplungen oder inaktive Gruppen? Warum landet man beim Klick auf einen der Einträge oft nur wieder auf vernunftkraft.de oder erhält außer dem Namen der BI nur die Information „Kontakt über Thomas Jacob (Sprecher der VI Brandenburg“ oder gar keine Kontaktinformationen? Und warum liegen die Daten nicht als Liste vor, sondern nur als Karte? 

Eine Studie des Rechercheteams "Europäische-Energiewende-Community"

Das Rechercheteam der Europäische-Energiewende-Community [6] hat sich der mühseligen Aufgabe gestellt, sämtliche Einträge auf den genannten beiden Karten minutiös zu überprüfen, zu sortieren und zu klassifizieren. In einem ersten Schritt wurden die Informationen aus den beiden Internetseiten extrahiert und als Tabelle aufbereitet – 1674 Einträge kamen so zusammen, davon tatsächlich 1131 von windwahn.com. Nur – sind das auch alles existierende und aktive Bürgerinitiativen? 

Im zweiten Schritt wurden die Einträge unterteilt in jene, die eine Internetadresse hatten, jene, für die nur eine eMail-Adresse angegeben war und jene, für die keinerlei Kontaktinformationen vorhanden waren. Zur letzten Kategorie gehören auch all jene, die einen generischen Verweis auf vernunftkraft.de oder eine andere Sammelseite wie z.B. www.vi-rettet-brandenburg.de enthielten. Und hier bestätigte sich bereits der erste Verdacht: Nur 847 Einträge haben eine eigene Internetpräsenz, 290 Einträge haben nur eine eMail-Adresse, und für 537 Einträge lagen gar keine eigenen Kontaktinformationen vor.

Dann begann der mühsame Teil: Der Besuch jeder einzelnen Seite, um von dort den Ort, Kontaktinformationen (zum Abgleich mit anderen Einträgen), Datum der ersten und letzten Änderung sowie die Größe der Bürgerinitiative zu erfahren, das Anschreiben jeder eMail-Adresse um zu prüfen, ob sie gültig ist (oder sogar beantwortet wird) und das Googeln all der Bürgerinitiativen, für die nur der Name oder der Ort bekannt sind. 

ErgebnisseTreeMapDiagramm

Abb. 1: Klassifikation der insgesamt 1674 Einträge auf den "Gegenwindkarten" von vernunftkraft.de und windwahn.de

Anzahl aktiver Bürgerinitiativen

202 Mal landeten die Rechercheure dabei auf toten Seiten – Domain zu erwerben / Coming soon! / Leider ist dieser Inhalt zu Zeit nicht verfügbar / Hier entsteht eine neue Homepage / Die Webseite ist nicht erreichbar; Dann mussten sie auf das Web-Archiv von http://web.archive.org/ ausweichen, um die gewünschten Informationen zu erhalten. Auch von den eMail-Adressen waren 49 ungültig, und von 120 angeblichen Bürgerinitiativen fand sich bei Google keine Spur.

Für die weitere Analyse waren vor allem zwei Informationen entscheidend: Wo war oder ist die Bürgerinitiative aktiv und wann war die Bürgerinitiative zuletzt aktiv? Die Ortsinformation wurden genutzt, um festzustellen, ob dieselbe Initiative an mehreren Orten aktiv war oder ist oder ob es am selben Ort mehrere Initiativen gab oder gibt. In beiden Fällen sind die entsprechenden Karteneinträge als redundant zu betrachten – es handelt sich um dieselbe Bürgerinitiative, die mehrfach (ggf. mit unterschiedlichen Kontaktinformationen oder neuen Benennungen) verzeichnet ist. Und tatsächlich: 646 Einträge sind Doubletten im genannten Sinn. Bei 60 weiteren handelt es sich um Ortsgruppen größerer Initiativen. 

Zur Auswertung der Zeitinformation wurde ein Stichtag festgelegt, der 31.3.2019 – ein Jahr vor der Recherche, denn es ist anzunehmen, dass eine aktive Bürgerinitiative zumindest einmal pro Jahr ihre Internetpräsenz aktualisiert oder in der Presse erwähnt wird. Bürgerinitiativen, für die eine Aktivität nach diesem Stichtag festgestellt werden konnte, wurden als aktiv klassifiziert, solche mit ihrer letzten feststellbaren Aktivität vor diesem Stichtag als inaktiv. Und nach den vorherigen Ergebnissen überrascht dieses nicht mehr wirklich: 548 Bürgerinitiativen sind inaktiv und nur 290 sind aktiv.

In Abbildung 1 sind jene Initiativen dunkler hervorgehoben, die in ihrem Kampf gegen Windräder erfolgreich waren – durchaus nicht die Mehrheit der inaktiven Initiativen.

Die Aussage, es gäbe „über 1000 Bürgerinitiativen gegen Windkraft“ ist daher falsch. Es sind nur 290. Zudem zeigt die unglaublich schlechte Datenqualität der Quellen (hervorgerufen durch immer neue Einträge ohne Bereinigung der alten), dass der Rückgriff auf diese Quellen seitens führender Politiker äußerst unseriös ist.

Aktivitätsverlauf2021

Abb. 2: Aktivitätsverlauf der Gegenwindbewegung bis 30.5.2020

Aktivitätsverlauf

Angesichts der großen Zahl inaktiver Bürgerinitiativen stellt sich die Frage, wann diese denn aktiv gewesen waren. Da Anfangs- und Endezeitpunkt der jeweiligen Initiative in den meisten (wenn auch nicht allen) Fällen ermittelt werden konnten, war es möglich, für jeden Zeitpunkt zwischen dem 1.1.2000 und dem 31.5.2020 die Anzahl von Bürgerinitiativen zu bestimmen, die zu diesem Zeitpunkt gleichzeitig aktiv waren. Und diese Ansicht ermöglicht eine interessante Reise in die Vergangenheit (Abbildung 2).

Die Auswertung zeigt, dass die Anzahl aktiver Initiativen bis Ende 2013 exponentiell anstieg, dann flacher weiter wuchs bis zu ihrem Höhepunkt Ende 2015, auf dem sie bis Ende 2017 verharrte. Seit 2018 sank die Zahl der aktiven Initiativen wieder, bis Ende 2019 stellte fast die Hälfte der Initiativen ihre Aktivität ein, und ihr Niedergang setzte sich Anfang 2020 noch schneller fort.

Man kann festhalten, dass die Initiativen gegen Windkraft ihren Zenit mittlerweile deutlich überschritten haben und ihre Anzahl schnell sinkt. Der Widerstand gegen Windkraft an Land ist auf dem Rückzug.

Woran liegt das? Zwei Ursachen sind denkbar: 

  1. Die Forderungen der Windkraft-Gegner wurden von der Politik erfüllt
  2. Die Bevölkerung entwickelte ein Bewusstsein für die Notwendigkeit von Windkraftanlagen

In der Grafik sind die entsprechenden Daten eingetragen: 

Am 15.9.2013 war die letzte Aktualisierung des Volksbegehrens gegen Windkraft [7], gleichzeitig stieg die Anzahl aktiver Bürgerinitiativen weiter. 

Die Verabschiedung der 10H-Regel in Bayern erfolgte am 17.11.2014 [8]. Trotzdem stieg die Anzahl der Initiativen gegen Windkraft noch ein Jahr lang weiter, und blieb dann zwei Jahre lang auf ihrem maximalen Niveau. Offensichtlich hatte die Regel keinen sonderlich befriedenden Effekt, wenn überhaupt dann mit deutlicher Verzögerung. 

Am 1.5.2017 wurde die finanzielle Förderung von Windkraftanlagen auf ein Ausschreibungsverfahren umgestellt [9]. Zuvor wurden nochmal massiv Anlagen gebaut, da die Umstellung angekündigt worden war. Ab 2018 sank die Errichtung neuer Anlagen aufgrund der Ausschreibungsregelung massiv. Gleichzeitig begann die Zahl aktiver Bürgerinitiativen zu sinken. Dies ist insofern logisch, als dass weniger Bauvorhaben auch zu weniger Protesten dagegen führen. Ob diese Regelung auf Druck der Bürgerinitiativen eingeführt wurde, wäre noch zu untersuchen, die zeitliche Korrelation suggeriert diesen Schluss zumindest.

Die FfF-Bewegung begann Anfang 2019 und erreichte ihren vorläufigen Höhepunkt mit dem Globalen Klimastreik am 20.9.2019 mit 1,4 Millionen Teilnehmern. Obwohl der Niedergang der Gegenwindbewegung bereits 2018 begonnen hatte, setzte er sich 2019 immer schneller fort. Man kann schlussfolgern, dass es bei der breiten Öffentlichkeit einen Bewusstseinswandel gegeben hat, der Windkraftanlagen nicht mehr in erster Linie als Bedrohung, sondern als Hilfe im Kampf gegen den Klimawandel betrachtet. 

Unterstützer

Abb. 3: Anzahl von Anti-Windkraft-Initiativen klassifiziert nach Anzahl von Unterstützern

UnterstützerVergleich2

Abb. 4: Unterstützer von Initiativen gegen Windkraft, im Vergleich mit den Teilnehmern von Fridays for Future

Anzahl Unterstützer gegen Windenergie

Ein drittes Ergebnis förderte die Studie zu Tage: Die Anzahl Personen, die sich gegen die Windkraft aussprechen, ist signifikant niedriger als jene, die sich für Klimaschutz einsetzen. 

Die meisten Initiativen haben zwischen 200 und 500 Unterstützern, diese Kategorie umfasst über 20% der Initiativen für die Daten vorliegen. Größere gibt es seltener (zusammen ebenfalls 20%), und sehr große Initiativen mit über 5000 Unterstützern gibt es nur drei. Die meisten Initiativen haben unter 200 Unterstützern, insgesamt knapp 58% der Initiativen. Der Median beträgt 131 Unterstützer pro Initiative (Abbildung 3).

Schätzt man die Gesamtzahl Menschen, welche inaktive oder aktive Bürgerinitiativen als Mitglieder, auf Demonstrationen oder mit Unterschriften unterstützen, durch Summation und den Median ab, so kommt man auf 121.592 Menschen für aktive Initiativen und weitere 129.143 Menschen für inaktive Initiativen. Stellt man dies in Relation zu den 1,4 Millionen Menschen, die am 20.9.2019 an den Fridays for Future Protesten teilnahmen, so ergibt sich folgendes Bild (Abbildung 4).

Es gibt also elf Mal so viele Menschen, die sich für mehr Klimaschutz einsetzen als Windkraftgegner. Vor diesem Hintergrund ist völlig unverständlich, dass die Bundesregierung den Ausbau der Windkraft an Land dermaßen gründlich und effektiv bekämpft.

Fazit

Die Studie [10] befasst sich über oben geschilderte Ergebnisse hinaus auch noch mit den Argumenten, die gegen die Windkraft ins Feld geführt werden – und für wie wichtig die Windkraftgegner die jeweiligen Argumente selbst halten. Sie analysiert, dass es zwei Gruppen von Windkraftgegnern gibt, die „Fundamentalisten“ und die „Betroffenen“. Wenn Sie also Interesse haben, können Sie im begleitenden Artikel [11] weiterlesen.

Außerdem hat das Rechercheteam alle 31 Argumente gegen Windenergie einzeln analysiert und sehr viele Hintergrundinformationen und Analysen zu jedem der Argumente zusammengetragen und aufbereitet [12]. Sofern Sie also irgendeine Frage zur Windkraft haben oder in eine Diskussion zur Windkraft verwickelt sind – hier finden Sie alles, was sie wissen müssen, fundiert, ausführlich und immer durch Quellen belegt.

Der Download-Tipp:

Bürgerinitiativen gegen Windkraft: Eine Studie des Rechercheteams Europäische-Energiewende-Community“

Deutschland hat ein Problem mit der Windkraft an Land. Zumindest wenn man den Aussagen der regierenden Politiker und den einschlägigen Seiten vernunftkraft.de und windwahn.de folgt. Aber ist das tatsächlich so? 

Das Rechercheteam der Europäischen-Energiewende-Community kommt in einer Studie zu dem Ergebnis, dass es anstatt über 1000 tatsächlich nur 290 aktive Bürgerinitiativen gegen Windkraft gibt, und sehr viele Mehrfacheinträge und inaktive oder nicht mehr erreichbare Einträge auf den genannten Seiten eine größere Aktivität gegen Windkraft vortäuschen. Tatsächlich stellen sich in Deutschland je nach Schätzung zwischen 121.000 und 342.000 Menschen gegen Windkraft an Land – im Vergleich zu den 1,4 Millionen Demonstranten für mehr Klimaschutz am 20.9.2019.

Die Studie umfasst 72 Seiten, ist kostenfrei und steht online zum Download bereit:

https://energiewende.eu/wp-content/uploads/2021/01/Buergerinitiativen-gegen-Windkraft-mit-Anhang-Studie-Community-Europaeische-Energiewende.pdf

Kurz-URL: https://bit.ly/3qsroXy

Quellen

[1] Peter Altmaier im Gespräch mit Mario Dobovisek. Ausbau der Windenergie bürgerverträglich gestalten. [Online]: Deutschlandfunk, 19.11.2019. https://www.deutschlandfunk.de/windkraft-ausbau-der-windenergie-buergervertraeglich.694.de.html?dram%3Aarticle_id=463777

[2] Jens Koeppen. Rede im Plenum des Deutschen Bundestages — EEG. Berlin: 30.3.2020. https://jens-koeppen.de/rede-im-plenum-3-2/

[3] Annette Bruhns, Stefan Schultz, Patrick Stotz und Achim Tack. Windjammer – Geplante Abstandsregel für Rotoren. Hamburg : SPIEGEL Wirtschaft, 21.11.2019. https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/windraeder-geplante-abstandsregel-wie-eng-es-wirklich-wird-a-1297398.html

[4] Reichardt, Jutta. Karte der Bürgerinitiativen. [Online] : Windwahn, 6.2020. https://www.windwahn.com/karte-der-buergerinitiativen/

[5] Ziegler, Nikolai. Bundesinitiative Vernunftkraft. Berlin : Vernunftkraft, 2020. https://www.vernunftkraft.de/Bundesinitiative/

[6] Community Europäische Energiewende. Facebook-Gruppe. https://www.facebook.com/groups/238418979531528/

[7] Plarre, Waltraud. Unterschriftensammlungen in Deutschland - Im Widerspruch zur aktuellen Energiepolitik. Kloster Lehnin : Rettet Brandenburg Die Volksinitiative, 15.09.2013. http://www.volksbegehren-windkraft.de/vi/gegenwind/intern/dokumente/dokumente-fuer-wissenswertes/unterschriftensammlungen-in-deutschland-im-widerspruch-zur-aktuellen-energiepolitik/

[8] Böll-Stiftung, Heinrich. 10H-Regelung. [Online] 10. 2 2020. https://kommunalwiki.boell.de/index.php/10H-Regelung

[9] Bundesnetzagentur. Ausschreibungen Windenergie an Land. [Online] : Bundesnetzagentur, 28.11.2019. https://www.bundesnetzagentur.de/DE/Sachgebiete/ElektrizitaetundGas/Unternehmen_Institutionen/Ausschreibungen/Wind_Onshore/Wind_Onshore_node.html

[10] Rechercheteam „Europäische-Energiewende-Community“. Bürgerinitiativen gegen Windkraft in Deutschland. [Online] Juli 2020. https://energiewende.eu/wp-content/uploads/2021/01/Buergerinitiativen-gegen-Windkraft-mit-Anhang-Studie-Community-Europaeische-Energiewende.pdf

[11] Rechercheteam „Europäische-Energiewende-Community“. Bürgerinitiativen gegen Windkraft in Deutschland. [Online] 25.1.2021. https://energiewende.eu/buergerinitiativen-gegen-windkraft-in-deutschland/#Argumente_gegen_Windkraft

[12] Rechercheteam „Europäische-Energiewende-Community“. Argumente gegen Windkraft – eine kritische Analyse. [Online] 1.11.2020. https://energiewende.eu/argumente-gegen-windkraft-eine-kritische-analyse/

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Thomas Rinneberg

ist Software-Architekt bei einem großen deutschen Software-Unternehmen. Er studierte Technomathematik an der TU Kaiserslautern und ist seit einem Jahr ehrenamtlich als Autor für das Magazin der Europäischen Energiewende Community aktiv.