16.07.2001 (überholt)

EVU-Freischaltstelle vor jedem Haus?

Einspruchsfrist zur VDI-Richtlinie 6012 endet am 31. Juli 01

Fast unbemerkt von der solaren Öffentlichkeit geht eine wichtige VDI-Richtlinie in den nächsten Wochen ihrer Vollendung entgegen. Der Entwurf der VDI-Richtlinie 6012 "Dezentrale Energiesysteme im Gebäude - Photovoltaik" ist wohl nur von wenigen Menschen gründlich gelesen worden. Sie hätte als zukünftige Richtschnur für Installation und Betrieb von PV-Anlagen mehr Aufmerksamkeit verdient. Wie wichtig ein solches grundlegendes Regelwerk für die weitere Entwicklung einer Technik sein kann, vergegenwärtigt man sich leicht, wenn man sich vorstellt, die Eisenbahn wäre damals in Deutschland mit einer Spurweite von 50 cm eingeführt worden.

Um in den letzten Wochen der Einspruchsfrist etwas mehr Interesse und Bereitschaft zur Mitarbeit an der neuen VDI-Richtlinie zu wecken, greifen wir im folgenden ein Detail heraus, welches nicht glücklich gelöst zu sein scheint und das jeden Solarinstallateur und zukünftigen PV-Anlagenbetreiber brennend interessieren dürfte: Der VDI Entwurf schreibt für PV-Anlagen über 5 kW zusätzlich zu der zwingend vorgeschriebenen Freischaltautomatik eine dem EVU jederzeit zugängliche Freischaltstelle vor.

Notwendigkeit einer Freischaltstelle

Wenn Reparaturarbeiten am Hausnetz oder am Versorgungsnetz durchgeführt werden sollen, muss dieses Netz, zumindest das betroffene Teilnetz spannungsfrei gemacht werden. Es wird "freigeschaltet", das heißt, es wird von allen Stromquellen abgetrennt. Wenn PV-Anlagen in dieses Teilnetz einspeisen, müssen auch sie freigeschaltet werden.

Möglichkeiten des Freischaltens

Zum Freischalten der PV-Anlagen gibt es prinzipiell zwei Möglichkeiten:

Möglichkeit 1: Abschaltung von Hand

Dazu muss eine dem EVU jederzeit zugängliche Freischaltstelle errichtet werden. Die einfachste und preiswerteste Ausführung besteht aus einem Schalter im kleinen Kästchen mit Schlüssel oder Glasscheibe an der Außenwand des Hauses, doch hat diese Ausfertigung den Nachteil, dass sie leicht übersehen wird. Deswegen gibt es auch die auffälligere Ausfertigung in einem hüfthohen extra Kasten am Bürgersteig vor dem Haus.

Möglichkeit 2: Automatische Abschaltung

Zu den automatischen Freischalteinrichtungen gehört z.B. eine sogenannte ENS oder eine dreiphasige Spannungsüberwachung.
Auf technische Details soll hier nicht weiter eingegangen werden, es mag der Hinweis genügen, dass zuverlässig arbeitende automatische Freischalteinrichtungen für PV-Anlagen aller Größen erhältlich sind und dass die automatische Freischalteinrichtung bereits in die meisten Wechselrichter integriert ist.

Manuell oder automatisch. Vor- und Nachteile

Hier sollen einige Gesichtspunkte genannt werden, die für die eine oder die andere Lösung sprechen. Bei diesen "sicherheitsphilosophischen" Erwägungen ist auch zu bedenken, dass in naher Zukunft in vielen Ortsteilen Dutzende oder sogar Hunderte von PV-Anlagen installiert sein werden.

Abschaltgeschwindigkeit

Bei Abschaltautomaten schalten alle Anlagen in dem Moment ab, in dem die Verbindung des Teilnetzes zum "vorgelagerten Netz" unterbrochen wird. Bei manueller Abschaltung hängt der Zeitbedarf, bis auch die letzte Anlage freigeschaltet ist, davon ab, wieviele Personen damit befasst sind, wie leicht die Freischaltstellen zu finden sind und welche Wege zwischen den Freischaltstellen zurückzulegen sind.

Versagensgründe:

Bei Automaten kann es zum Versagen kommen, wenn ein Automat entgegen der Vorschrift nicht eingebaut ist, manipuliert wurde oder schlicht kaputtgeht. Zur Berücksichtigung des letzten Falles sind für Automaten, die im Versagensfall die PV-Anlage nicht automatisch abschalten, dreijährige Überprüfungen vorgeschrieben.
Das Fehlen oder eine Manipulation lässt sich durch eine einfache Prüfung z.B. bei der Inbetriebnahme der PV-Anlage feststellen. Manipulationen nach der Inbetriebnahme lassen sich auch leicht erkennen, allerdings nur, wenn die Anlage daraufhin getestet wird. Die Wahrscheinlichkeit von nachträglichen Manipulationen ist nicht völlig von der Hand zu weisen. Z.B. könnte ein nicht fachkundiger Installateur auf die Idee kommen, dass ein Minderertrag der Anlage auf wiederholtes automatisches Abschalten zurückzuführen sei. Er könnte dann - anstatt die Ursache für das Abschalten zu suchen - das Abschalten durch eine (verbotene) Manipulation unterdrücken.

Bei manueller Abschaltung kann es zum Versagen kommen, wenn der Leiter der Reparaturarbeiten die Solaranlagen vergisst oder wenn die damit betraute Person eine Freischaltstelle vergisst, den Freischaltvorgang versehentlich unterlässt oder die Freischaltstelle nicht findet.
Dass eine Freischaltstelle vergessen wird, könnte besonders bei neu installierten PV-Anlagen geschehen, wenn die Unterlagen des Netzbetreibers noch nicht auf dem aktuellen Stand sind (weil die Bearbeitung bürokratischer Formalitäten regelmäßig einige Zeit in Anspruch nimmt).

Kosten

Die Kosten einer in den Wechselrichter integrierten automatischen Freischaltstelle liegen in der Größenordnung von 100 DM.

Die Kosten für eine dem EVU jederzeit zugängliche Freischaltstelle liegen in der Größenordnung weit über 1000 DM. Hinzu kommen die Personalkosten für den Freischaltvorgang. Diese Kosten ergeben sich nicht nur aus der Notwendigkeit, eine Person mit dem Freischalten zu beauftragen, sondern auch durch die Wartezeit der übrigen Personen, die an den Reparaturarbeiten beteiligt sind.

Sicherheitsprobleme bei Arbeiten im Hausnetz

Bei einer automatischen Freischalteinrichtung der PV-Anlage genügt das Abschalten der Haussicherung.

Bei einer dem EVU zugänglichen Freischaltstelle muss neben der Haussicherung auch noch die PV-Anlage extra ausgeschaltet werden. Hier besteht eine Gefahr, dass die PV-Anlage vergessen wird.

Verantwortlichkeiten bei einem Schadensfall

Im Fall des Abschaltautomaten liegt die Verantwortung beim Betreiber der PV-Anlage.

Im Fall der manuellen Abschaltung liegt die Verantwortung beim Versorgungsnetzbetreiber

Bei gleichzeitiger Verwendung von automatischen und manuellen Freischaltstellen stellt sich die Frage, wann das freizuschaltende Netz als freigeschaltet gilt; wann also mit den Arbeiten begonnen werden darf.
Hier ist zu befürchten, dass die scheinbare doppelte Sicherheit eher zu einem laxem Umgang mit der Abschaltvorschrift verfüren kann.

Mitverschulden bei einem Schadensfall

In allen Fällen trifft die mit der Reparaturarbeit betrauten Personen der überwiegende Teil der Verantwortung, denn der Installateur hat bei Arbeiten am Netz folgende Regeln zu befolgen: Freischalten, gegen Wiedereinschalten sichern, Spannungsfreiheit feststellen, Kurzschließen, Erden.
Wenn er diese Regeln befolgt, schaltet zwangsläufig jede Solarstromanlage ab, gleichgültig ob automatisch oder manuell oder überhaupt nicht freigeschaltet.

Bedeutung und Verbindlichkeit der VDI-Richtlinie 6012

Der VDE ist verantwortlich für die VDE-Vorschriften, der VDI für die VDI-Richtlinien.

Die VDI-Richtlinie 6012 befasst sich mit der Einbindung der PV in die Gebäudetechnik. Dabei kommen Gesichtspunkte zusammen, die von den verschiedensten Personen zu beachten sind; Architekt, Statiker, Dachdecker, Elektroplaner, Netzbetreiber, Installateur, Bauherr, Betreiber usw. sind betroffen.

Die verwendeten Einzelgeräte, soweit es elektrische oder elektronische Bauteile sind, unterliegen den Vorschriften der VDE. Darauf wird an einigen Stellen der VDI-Richtlinie ausdrücklich hingewiesen. In der VDI-Richtlinie steht z.B. der Satz: "Wechselrichter müssen eine den Vorschriften der VDEW entsprechende dreiphasige Spannungsüberwachung oder eine der DIN VDE 0126 entsprechende Impedanzüberwachung (ENS) aufweisen."

Die Verletzung der VDE-Vorschriften ist auch dann strafbar, wenn nichts passiert (man beachte den feinen Unterschied zwischen Vorschrift und Richtlinie!)

Eine Verletzung der VDI-Richtlinie ist - wenn sie zu einem Schaden führt, ein gewichtiges Argument bei der Klärung der Verschuldensfrage in einem Gerichtsverfahren.

Da bei auftretenden Schäden die Regelung der Haftung von großer Wichtigkeit ist, wird es sich wohl kein Netzbetreiber und kein Installateur in Zukunft leisten können, von der VDI-Richtlinie abzuweichen.

Genauere Auskunft gibt Herr Terhorst beim VDI

Einsprüche gegen den VDI-Entwurf

Einsprüche sind noch bis zum 31.7.01 möglich. Sie sind zu richten an:

Verein Deutscher Ingenieure
VDI-Gesellschaft Technische Gebäudeausrüstung
Postfach 10 11 39
40002 Düsseldorf

Mit freundlichen Grüßen
Wolf von Fabeck