Agenda 2010
"Der nachfolgende Text ist die Kurzfassung eines gleichnamigen ausführlicheren Artikels . Dort findet sich auch das Literaturverzeichnis."

Reformieren statt Deformieren

Die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme (Kurzfassung)
von Jürgen Grahl
Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,
Ich kenn' auch die Herren Verfasser.
Ich weiß, sie tranken heimlich Wein
Und predigten öffentlich Wasser.
       (Heinrich Heine, "Deutschland - Ein Wintermärchen")

Das geradezu tragische Dilemma der um die Agenda 2010 ringenden SPD ist Spiegelbild der Ausweglosigkeit, in der sich die Diskussion um die "Reform" der sozialen Sicherungssysteme insgesamt verfangen hat: Eine wirklich realistische Alternative zur brutalstmöglichen Lösung, zum sozialen Kahlschlag, scheint weit und breit nicht in Sicht. Daher ist auch von Aufbruchstimmung, Optimismus, Hoffnung, neuen Zukunftsperspektiven, wie man sie eigentlich mit dem Wort "Reform" verbinden sollte, längst nichts mehr zu spüren; vielmehr stellen sich die Bürger, sooft eine neue "Reform" droht, die bange Frage, welche Grausamkeiten diesmal auf sie zukommen.

Dabei stellt die vermeintliche Alternativlosigkeit, mit der Gerhard Schröder geradezu kokettiert, um seine Agenda durchzuboxen, eine fatale Verkennung der wahren Gestaltungsmöglichkeiten dar. Dass es sehr wohl möglich ist, den Sozialstaat wieder auf eine solide, dauerhaft tragfähige Grundlage zu stellen, soll dieser Artikel aufzeigen.

 Ausgaben- oder Einnahmenkrise?

Der Sozialstaat sei zu teuer und nicht mehr finanzierbar, verkünden die Neoliberalen gebetsmühlenhaft, doch das trifft so nicht zu: Die Sozialleistungsquote, der Anteil des Bruttoinlandsprodukts (BIP), der für Soziales ausgegeben wird, hat sich seit 1975 kaum verändert. Sie lag und liegt bei rund 30% ([1], S. 67 f.). Von einer "Kostenexplosion" kann also kaum die Rede sein, weder im Gesundheitswesen noch bei den Renten. Schon eher angebracht ist der Begriff "Explosion" hingegen beim Anstieg der Beitragssätze: Diese sind von ca. 27% im Jahre 1975 auf derzeit 42% geklettert. Hier zeigt sich, dass die Sozialversicherungen primär nicht ein Ausgaben-, sondern ein Einnahmenproblem haben: Ihre traditionelle Finanzierungsbasis, die Erhebung von Sozialbeiträgen auf den Faktor Arbeit, bricht mehr und mehr weg. Boxberger und Klimenta nennen fünf Gründe für diese Entwicklung ([1], S. 69 f.):

(1) Die Überfrachtung mit versicherungsfremden Leistungen. Hier sind auch die Kosten der deutschen Einheit zu nennen, die man aus Feigheit, die Steuern zu erhöhen, auf die Sozialkassen und damit einseitig auf die abhängig Beschäftigten abgewälzt hat. Nach Berechnungen des Instituts der Deutschen Wirtschaft liegen die versicherungsfremden Leistungen bei fast 90 Milliarden Euro pro Jahr, von denen nur etwa 35 Milliarden über Steuern finanziert werden. [13]

(2) Die steigende Arbeitslosigkeit bedingt höhere Ausgaben und (durch die sinkende Zahl an Beitragszahlern) geringere Einnahmen.

(3) Die Zunahme geringfügiger, sozialversicherungsfreier Beschäftigungsverhältnisse ("325 Euro-Jobs") und der Scheinselbständigkeit.

(4) Sinkende Unternehmensteuern reduzieren den Spielraum für staatlich finanzierte Sozialleistungen. Umso höher wird der Anteil, den die Beiträge der abhängig Beschäftigten aufbringen müssen.

(5) Die Lohnentwicklung hat mit dem Wachstum des BIP nicht Schritt gehalten: Betrug die Bruttolohnquote (der Anteil der Bruttolöhne am Volkseinkommen) 1975 noch 75%, so war sie bis 1998 auf 67% gesunken.

Aus dieser Analyse lassen sich einige durchaus sinnvolle Maßnahmen ableiten: Steuerfinanzierung der versicherungsfremden Leistungen, konsequente Bekämpfung der Scheinselbständigkeit, Heranziehung von Kapitaleinkünften auch zur Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme und ganz allgemein eine Verbreiterung der Bemessungsbasis. Die Vorstellungen einiger Mitglieder der Rürup-Kommission, Sozialbeiträge auch auf Miet- und Zinseinkünfte zu erheben, sind insofern ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Auch eine Einbeziehung der Selbständigen ist dringend geboten. Weiterhin ist nicht einzusehen, weshalb - ganz anders als bei der Einkommensteuer! - ausgerechnet höhere Einkünfte bessergestellt werden. Eine deutliche Anhebung oder völlige Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenzen ist daher ein Gebot der Solidarität und würde zumindest eine gewisse Beitragssenkung erlauben.

 Die strukturelle Schwäche des Faktors Arbeit

Dennoch greift die bisherige Analyse noch zu kurz: Der tiefere Grund für die fortschreitende Erosion der Bemessungsbasis liegt in einer ausgeprägten strukturellen Schwäche des Faktors Arbeit. Diese ergibt sich aus der wie ein Damoklesschwert über fast jedem Arbeitsplatz schwebenden Drohung mit Rationalisierung und Automatisierung, mit Arbeitsplatzabbau zugunsten des Maschinen- und Computereinsatzes. Dass Arbeitnehmer und Gewerkschaften dieser Drohung letztlich nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen haben, liegt an der mangelnden Konkurrenzfähigkeit der menschlichen Arbeitskraft - weniger gegenüber ausländischen Billigarbeitern, wie von den neoliberalen Standort-Kassandras immer wieder behauptet wird, als vielmehr gegenüber dem von den Wirtschaftswissenschaften weitgehend ignorierten Produktionsfaktor Energie:

Der Faktor Arbeit macht durchschnittlich etwa 65% der gesamten Produktionskosten aus, der Faktor Energie lediglich knapp 5%. Hingegen liegt die sog. Produktionsmächtigkeit der Energie, die man als Maß für ihren prozentualen Beitrag zur Gesamtwertschöpfung auffassen kann, bei 44%, die Produktionsmächtigkeit der menschlichen Arbeit hingegen bei lediglich 9%. (Mittelwerte der Jahre 1960 bis 1989; nach Studien von W. Eichhorn, R. Kümmel et al., siehe [2], [7] und [8]. Ausführlich haben wir die Bedeutung dieser Resultate in [3], [4], [5] und [6] diskutiert.)

Arbeit hohe Kosten: 65%geringe Produktionsmächtigkeit: 9%
Energieniedrige Kosten:5%hohe Produktionsmächtigkeit: 44%

Anschaulich kann man sich das so vorstellen: Eine Erhöhung des Energieeinsatzes um z.B. 10% (bei gleichbleibendem Einsatz von Arbeit und Kapital) ermöglicht im Mittel eine Steigerung der Wertschöpfung um 4,4% (nämlich 44% von 10%), erhöht die Energiekosten aber lediglich um 0,5%. Demgegenüber lässt eine Ausweitung des Einsatzes an Arbeit um ebenfalls 10% die Wertschöpfung durchschnittlich nur um 0,9% wachsen, die Kosten jedoch um 6,5%. Der betriebswirtschaftliche Anreiz, Menschen einzustellen, ist also äußerst gering, der zu verstärktem Energieeinsatz hingegen hoch. Und die von der Energie derart billig ermöglichte Wertschöpfung wird bisher fast gar nicht zur Finanzierung der staatlichen Aufgaben und des Sozialstaates herangezogen!

Wenn hier und im Folgenden von Energieeinsatz als Alternative zum Einsatz menschlicher Arbeit die Rede ist, so geht es dabei nicht nur um die Maschinen und Computer in der Produktion, sondern in besonderem Maße auch um die Verwendung von industriell mit hohem Energieaufwand hergestellten billigen Grundstoffen in der Massenproduktion wie Aluminium, Stahl, Kunststoff oder Zement. Der Energieaufwand an "Prozesswärme" für deren Herstellung übersteigt den Energieaufwand für mechanische Verrichtungen durch Maschinen und Automaten in der deutschen Industrie etwa um das Vierfache.

Es mag einige psychologische Widerstände hervorrufen, wenn die menschliche Arbeit mit mageren 9% Produktionsmächtigkeit "abgespeist" wird. Aber eben darum, um ein "Abspeisen" geht es gerade nicht: Die genannten 9% sind keinesfalls als gesellschaftliches Werturteil über die menschliche Arbeit oder gar als Plädoyer für niedrigere Löhne zu verstehen. Natürlich soll sich die Einkommensverteilung auch weiterhin am Ziel, Wohlstand für alle zu schaffen, orientieren und nicht an abstrakten Größen wie den Produktionsmächtigkeiten. Aus übergeordneter gesellschaftlicher Sicht ist selbstverständlich die menschliche Arbeit der zentrale Produktionsfaktor. Aber rein betriebswirtschaftlich gesehen ist sie eben nur einer unter mehreren, der "nötigenfalls" gnadenlos wegrationalisiert wird. Die Börsen etwa haben das Gefälle in den Produktionsmächtigkeiten intuitiv längst erkannt, was daran deutlich wurde, dass sie während des Booms der 1990er Jahre die Ankündigung von Massenentlassungen regelmäßig mit wahren Kursfeuerwerken honoriert haben. Angesichts der dramatischen strukturellen Schwäche des Faktors Arbeit, wie sie sich in den genannten Zahlen ausdrückt, verblasst auch die heute bestehende Arbeitslosigkeit geradezu gegenüber der uns noch drohenden: Ohne konsequentes Gegensteuern bewegen wir uns in Richtung der in der "Globalisierungsfalle" ([10], S. 13) prophezeiten 20:80-Gesellschaft, in der nur noch 20% Arbeit finden, 80% aber schlichtweg nicht mehr gebraucht werden.

Damit haben wir die tiefere Ursache der Misere und des eingangs angesprochenen Dilemmas herausgearbeitet: Die fast ausschließliche Finanzierung des Sozialstaates über Abgaben auf eben jene so sehr unter Druck geratene menschliche Arbeitskraft hat dazu geführt, dass die beiden gleichermaßen wichtigen Ziele "(Voll-)Beschäftigung" und "soziale Gerechtigkeit" unsinniger- und unnötigerweise in einen vermeintlich unauflösbaren Grundkonflikt geraten sind: Um die Schaffung neuer Arbeitsplätze zu erleichtern, müsste Arbeit "attraktiver", sprich billiger werden, was den Abwurf des "sozialen Ballastes" gebieten würde, also die Preisgabe des zweiten Ziels! Dieser Zielkonflikt zwischen Vollbeschäftigung und sozialer Gerechtigkeit ist solange nicht auflösbar, wie man an der alleinigen Finanzierung über den Faktor Arbeit festhält; auch die zweifellos gutgemeinten neokeynesianischen Rezepte liefern keinen Ausweg aus diesem Dilemma, da sie die strukturelle Schwäche der Arbeit weitgehend ignorieren (s.u.).

Insofern hat Gerhard Schröder nicht ganz unrecht mit seiner Äußerung, die Kritiker der Agenda 2010 wollten an etwas festhalten, dem die reale Grundlage entzogen sei: Wenn er damit die Finanzierung des Sozialstaates über den Faktor Arbeit meint, ist das durchaus zutreffend. Aber warum schließt sich an diese Einsicht nicht die auf der Hand liegende Folgerung an, dass wir uns dann eben nach einer anderen, ergiebigeren und vor allem langfristig tragfähigen Finanzierungsbasis für den Sozialstaat umsehen müssen? Angesichts der genannten Zahlen drängt sich hierfür der Faktor Energie als der Faktor mit der höchsten Produktionsmächtigkeit geradezu auf.

Ganz Ähnliches gilt übrigens für die Problematik der ausufernden Staatsverschuldung: Sie ist wesentlich dadurch mitbedingt, dass die hauptsächliche Finanzierung der Staatsaufgaben über Steuern auf menschliche Arbeit einen ebenfalls unnötigen Zielkonflikt aufgebaut hat zwischen Arbeitsmarktpolitik und Haushaltssanierung (vgl. auch [6]). Die Umschichtung der Steuerlast weg von der Arbeit hin zur Energie könnte auch diesen gordischen Knoten zu durchschlagen helfen. Aber das ist ein anderes Thema.

Noch etwas anderes lehrt uns der obige zahlenmäßige Vergleich der Produktionsmächtigkeiten von Arbeit und Energie einerseits und ihrer Faktorkosten andererseits: Die Unterlegenheit der Arbeit gegenüber der Energie ist so gewaltig, dass man mit einer geringen Absenkung der Lohnnebenkosten um wenige Prozentpunkte, wie sie die Agenda 2010 anstrebt, nur wenig wird erreichen können. Dem langfristigen Trend, teure Arbeit durch billige Energie zu ersetzen, wird damit nicht Einhalt geboten - dazu ist das Gefälle zwischen beiden zu riesig. Es wird im Grunde die ganze Zeit über eine bloße Feinjustierung des Systems diskutiert, der Grundfehler in der Grobjustierung aber geflissentlich übersehen. Schon heute ist die weitere Entwicklung absehbar: In wenigen Jahren, wenn die erhofften Erfolge ausbleiben, wird man um weitere soziale Einschnitte "nicht herumkommen", die sich aber ebenfalls als "nicht weitreichend genug" entpuppen werden, und so wird es immer weitergehen, bis in 15 oder 20 Jahren nichts mehr übrig ist vom Sozialstaat heutiger Prägung. Aber auch dann wird die Arbeit noch zu teuer sein, als dass sie mit der Energie konkurrieren könnte - selbst, wenn man es bis dahin "geschafft" hat, auch die Löhne selbst auf das Niveau eines Dritte-Welt-Landes zu drücken. Das Scheitern dieser Strategie ist somit schon heute vorherzusehen, womit sich spätestens hier die ganze Absurdität des neoliberalistischen Deformkonzeptes zeigt.

Bezeichnend dabei ist, dass man den Abriss des Sozialstaats auf Raten durchführt: Auf diese Weise minimiert man die Zahl der jeweils direkt Betroffenen und weckt bei den übrigen die Hoffnung, nun sei die Stabilität des (Rest-)Gebäudes der sozialen Sicherung dauerhaft gesichert. Das geht so lange, bis von dem einst so stolzen Bau bis auf einen kümmerlichen Rest nichts mehr übrig ist. Dabei wäre alles vermeid- und der Sozialstaat in seiner Gänze erhaltbar gewesen, wenn man sich rechtzeitig darauf konzentriert hätte, das brüchig gewordene (Finanzierungs-)Fundament zu sanieren.

 Eine neue Finanzierungsbasis für den Sozialstaat

Diese Sanierung, die Lösung für die strukturelle Finanzierungskrise des Sozialstaates besteht darin, sukzessive die Sozialbeiträge zu senken und durch Energiesteuern zu ersetzen, wie es das Konzept der "ökologischen" Steuerreform vorsieht. Dementsprechend ist es auch nicht mit einigen wenigen zaghaften Ökosteuerschritten getan; vielmehr muss die Abgaben- (und Steuer-)last zu einem großen Teil oder sogar völlig von der Arbeit hin zur Energie verlagert werden. Selbstverständlich ist eine solch fundamentale Umstellung nicht innerhalb weniger Jahre zu bewerkstelligen, sondern wird 20 bis 30 Jahre in Anspruch nehmen. Aber einen schnellen Weg aus der Krise kann es angesichts von in Jahrzehnten gewachsenen Fehlentwicklungen wohl kaum geben.

Die diversen Einwände gegen dieses Konzept, insbesondere seine vermeintliche soziale Unausgewogenheit und die angebliche Unmöglichkeit nationaler Alleingänge, habe ich bereits in [3] ausführlich diskutiert. Daher mögen hier einige ergänzende Bemerkungen genügen:

Ein auf den ersten Blick durchaus berechtigter Einwand ist der folgende: Die gegenwärtige Steuerprogression bei der Lohn- und Einkommensteuer ermögliche es, höhere Einkommen stärker zu belasten und auf diese Weise den "starken Schultern" mehr aufzubürden als den schwachen; dieses ausgleichende und umverteilende Element fehle bei der Energiebesteuerung zunächst. Aber dieses Problem ist leicht lösbar, indem man die Entlastungen auf den Bereich der kleinen und mittleren Einkommen konzentriert. Dies ist z.B. durch eine Senkung des Eingangssteuersatzes und Erhöhung des Grundfreibetrages erreichbar. Davon profitieren alle Einkommen - auch die höheren, denn auch für diese sinkt (selbst bei gleichbleibendem Spitzensteuersatz!) der für die Steuerbelastung allein maßgebliche durchschnittliche Steuersatz. Auf dieses Weise bleibt die ausgleichende Funktion des Einkommensteuertarifs vollständig erhalten. Die Ökosteuereinnahmen für eine weitere Senkung des Spitzensteuersatzes zu verfrühstücken, wäre hingegen in der Tat unsozial und verantwortungslos.

Ferner wird dem vorgestellten Konzept häufig vorgeworfen, es sei sinnlos, sich - im Sinne der Maschinenstürmer des 19. Jahrhunderts - gegen die Rationalisierung aufzulehnen. Darum geht es aber auch nicht: Soweit die Ersetzung menschlicher Routinearbeit durch Maschinen und Computer ein Mehr an Lebensqualität und gesellschaftlichen Fortschritt ermöglicht, wäre es falsch, sie aufhalten zu wollen. Und schon gar nicht soll Schwerarbeit von Maschinen auf menschliche Arbeiter zurückverlagert werden. Vielmehr geht es darum, dass die mittels Maschinen und Computern geschaffene Wertschöpfung angemessen zur Finanzierung der Sozialsysteme und allgemeiner der Gemeinschaftsaufgaben beiträgt. Dies wird es möglich (und finanzierbar!) machen, die Menschen vorwiegend dort einzusetzen, wo sie ihre wahren menschlichen Potentiale entfalten können, sei es im sozialen Bereich, im Bildungswesen oder in wissenschaftlichen oder künstlerischen Berufen.

Besonders zynisch ist der von den Neoliberalen oftmals zu hörende Einwand, die Verwendung des Ökosteueraufkommens für die Rentenkassen lenke nur von den "strukturellen" Problemen der Sozialversicherungen ab. Das Argument ist in etwa so stichhaltig, als würde man einem Verletzten, dessen Bein unter einer schweren Betonplatte eingeklemmt ist, erklären, eine Befreiung durch vorsichtiges Anheben der Platte lenke nur davon ab, dass man ihm besser durch Amputation seines Beines zu helfen vermöge: Selbstverständlich stecken die Sozialversicherungen in strukturellen Problemen; aber deren Lösung besteht gerade darin, auch den Produktionsfaktor Energie gemäß seiner hohen Leistungsfähigkeit (Produktionsmächtigkeit) heranzuziehen! Wie sinn- und verantwortungslos hingegen die Amputationen und Deformen sind, deren Unausweichlichkeit sich die Neoliberalen ständig herbeifantasieren, das wollen wir nunmehr kurz unter die Lupe nehmen.

Wider die neoliberalen Deformvorschläge

1.Private statt gesetzlicher Versicherung?

Ein großer Teil der Deformdiskussion dreht sich um eine "Ergänzung" der gesetzlichen Sozialversicherungen durch die - angeblich ach so überlegene - private Vorsorge. Es liegt auf der Hand, dass es dabei letztlich um eine plumpe Umverteilung zulasten der Arbeitnehmer geht, darum, den (über den Arbeitgeberanteil) heute von den Unternehmen getragenen Anteil auch noch den Arbeitnehmern aufzubürden - in der wohlkalkulierten Erwartung, dass diese sich die Mehrbelastung nicht über höhere Löhne zurückholen werden können, da hierfür die Machtposition des Faktors Arbeit zu schwach geworden ist.

2.Verlängerung der Lebensarbeitszeit?

Bevor wir diesen Vorschlag diskutieren, müssen wir zunächst mit einer Illusion aufräumen, welche die Diskussion um die Sozial"reformen" prägt: der Vorstellung, die demographische Entwicklung sei hauptverantwortlich für die Finanzierungsprobleme. Diese These mag verblüffen. Aber stellen wir uns einmal eine Gesellschaft mit einer "günstigeren" Altersstruktur vor: Es gäbe weniger Rentner - aber auch mehr Arbeitsuchende im erwerbstätigen Alter und somit (unter HEUTIGEN Rahmenbedingungen!) entsprechend mehr Arbeitslose. Die "Überalterung" der Gesellschaft für die Probleme in Haftung zu nehmen, geht an der tieferen Ursache vorbei - an der Tatsache, dass unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen nicht genügend Arbeit für alle angeboten wird, auf die sich die Finanzierung des Sozialstaats stützen ließe.

Dies bedeutet, dass eine Verlängerung (oder auch Verkürzung) der Lebensarbeitszeit letztlich ohne große Auswirkungen bleiben muss: Es kommt dadurch lediglich zu einer Lastenverschiebung von der Renten- hin zur Arbeitslosenversicherung (oder umgekehrt), nicht aber zu einer Verringerung der Gesamt"last". Tatsächlich beabsichtigt der Vorschlag eines höheren Renteneintrittsalters wohl auch nichts anderes als eine verkappte Rentenkürzung: Die Menschen würden nach wie vor vorzeitig in Ruhestand geschickt - aber mit noch höheren Rentenabschlägen als heute.

3. Privatisierung des Gesundheitswesens

Die Mär, dass ein privatwirtschaftlich organisiertes System generell effizienter arbeite als ein staatliches, wird eindrucksvoll durch einen Blick auf die USA widerlegt: Das dortige private Gesundheitssystem kostet ca. 14% des dortigen Bruttoinlandsprodukts, während unser staatliches System mit knapp 10% auskommt ([9], S. 92) - und das bei einem Niveau der medizinischen Versorgung, welches sich hinter dem der USA sicherlich nicht zu verstecken braucht!

  Die verzweifelten Alternativen der Neokeynesianer

Nun noch ein paar Worte zu den Gegenvorschlägen der Neokeynesianer bei Gewerkschaften und SPD-Linken, in denen zwei Grundideen immer wieder auftauchen: Zum einen solle nach dem Prinzip der antizyklischen Haushaltspolitik "vorübergehend" eine höhere Neuverschuldung inkauf genommen werden, um damit Konjunktur- und Investitionsprogramme zu finanzieren, welche dann einige wenige Prozent Wachstum bringen sollen; zum andern solle durch Lohnerhöhungen die Lohnentwicklung wieder an das allgemeine Wachstum des BIP angekoppelt werden, die Binnennachfrage gestärkt und die Bemessungsbasis für die Sozialbeiträge verbreitert werden.

Was die antizyklische Haushaltspolitik angeht, so handelt es sich dabei im Prinzip durchaus um einen richtigen und vernünftigen Ansatz. Aber die Neokeynesianer unterliegen einem schwerwiegenden Analyseirrtum: Wäre die heutige Arbeitslosigkeit konjunkturell bedingt, dann wäre staatliches "deficit spending" zur Wirtschaftsankurbelung in der Tat sinnvoll. Von konjunktureller Arbeitslosigkeit kann aber bei weiterhin (wenn auch angeblich nicht schnell genug) wachsender Wirtschaft nicht die Rede sein; vielmehr ist unsere Arbeitslosigkeit strukturell bedingt: durch die oben erläuterte strukturelle Schwäche des Faktors Arbeit gegenüber dem Faktor Energie. Dass dennoch allenthalben von "Konjunkturschwäche" und "lahmender Wirtschaft" gesprochen wird, ist eine Folge der irrigen Vorstellung, wir könnten und müssten auch langfristig einen "Wachstumspfad" von 3% Wirtschaftswachstum pro Jahr einschlagen; so wird bereits ein Absinken auf 0,5% oder 1% als "Wirtschaftseinbruch" wahrgenommen, der dann eine staatliche Neuverschuldung rechtfertigen würde. Die Grenze zwischen "guten" und "schlechten" Zeiten ist nicht etwa die Nulllinie zwischen Wachstum und Schrumpfung, sondern jener "Wachstumspfad" von 3%. Die Konsequenz: Seit über 30 Jahren haben wir fast nur noch "schlechte" Zeiten, weil wir jene 3% schlichtweg nicht mehr erreichen, und nehmen von Jahr zu Jahr zur "Krisenbewältigung" neue Schulden auf. Diese würden wir ja auch tilgen, sobald mal wieder "gute" Zeiten kämen; nur: Die guten Zeiten wollen partout nicht kommen - logische Folge unserer verzerrten Betrachtungsweise. Das Ganze ist aus zwei Gründen fatal: Zum einen bedeuten die Zinszahlungen auf die Schulden (derzeit über 40 Milliarden Euro pro Jahr!) eine gigantische Umverteilung von unten nach oben, von der Gesamtheit der Steuerzahler hin zu den Vermögenden. Zum anderen bleibt das solchermaßen teuer bezahlte Wachstum ohne erkennbare positive Auswirkungen: die Unternehmen wachsen, indem sie Arbeiter entlassen. Auch dieses Paradoxon lässt sich durch die Schieflage zwischen Arbeit und Energie erklären, durch die hierdurch angetriebene Vernichtung von Arbeitsplätzen, welche durch die heute noch erreichbaren Wachstumsraten nicht einmal mehr kompensiert wird (vgl. [5]). Solche grundlegenden Strukturfehler unseres Wirtschaftssystems durch eine Ankurbelung der Konjunktur lösen zu wollen, ist in etwa so sinnvoll, als würde man ein defektes Kugellager am Auto nicht austauschen, sondern zur Kompensation der erhöhten Reibung einen stärkeren Motor einbauen.

Fazit: Eine neuerlicher kräftiger "Schluck aus der Pulle" (Willy Brandt), eine weitere Erhöhung der Neuverschuldung würde die Probleme nicht lösen, sondern sie im Gegenteil weiter verschärfen. Angesichts des Schuldenbergs, auf dem wir heute schon sitzen, sind diesbezügliche Forderungen bestenfalls als Ausdruck völliger Verzweiflung und Ratlosigkeit zu interpretieren.

Nun zur Forderung nach höheren Löhnen: Es wird damit argumentiert, dass Lohnerhöhungen eine Absenkung der Beitragssätze der Sozialversicherungen ermöglichten - als ob dies die Probleme verringern würde! Dass die Gesamtkosten des Faktors Arbeit dadurch noch weiter steigen und die Schieflage zwischen Arbeit und Energie verschärft wird, wird geflissentlich ignoriert. Auch das Vorhaben, durch Förderung der Binnennachfrage die Konjunktur anzukurbeln, geht an der tatsächlichen Problematik vorbei - da es sich bei der gegenwärtigen Krise eben nicht um eine konjunkturelle Krise handelt.

Solche gutgemeinten, aber verzweifelten Vorschläge lassen den verheerenden Eindruck entstehen, es gebe keine Alternative zur neoliberalen Deform. Dies macht es den Neoliberalen leicht, auch so berechtigte Forderungen wie die nach einer stärkeren Besteuerung hoher Einkommen oder der Wiedereinführung der Vermögensteuer als Ideen aus der "Mottenkiste" abzubügeln und diejenigen, die sich gegen den Sozialabbau zur Wehr setzen, als Besitzstandswahrer und "Traditionalisten" (höfliche Umschreibung für "Ewiggestrige") zu brandmarken. Auf diese Weise steht sich die Kritik am Neoliberalismus bei der Entwicklung einer echten Alternative teilweise selbst im Wege.

  Nicht vermittelbar?

Man mag gegen das hier vorgestellte Konzept der konsequenten Umschichtung der Sozialbeiträge (und der Steuerlast insgesamt) von der Arbeit hin zur Energie einwenden, es sei realpolitisch nicht durchsetzbar, insbesondere nicht "vermittelbar". Wer so argumentiert, muss sich allerdings auch fragen lassen, ob die sozialen Grausamkeiten einer Agenda 2010 oder der vielleicht in wenigen Jahren folgenden Agenden 2015, 2020 etc. mit ihren schon heute absehbaren weiteren Einschnitten leichter "vermittelbar" sein und weniger Wählerstimmen kosten werden. Es ist unverständlich, dass gerade von den Bündnisgrünen in der aktuellen Diskussion keinerlei Eintreten für eine stärkere Heranziehung der Energie zur Finanzierung der Sozialversicherungen und damit für eine konsequente Fortführung der ökologischen Steuerreform zu hören ist. Und selbst wenn eine Mehrheit der Bevölkerung die Ökosteuer noch ablehnt (auch aufgrund der bisher höchst ungeschickten Vermittlung!) - es gibt doch eine starke Minderheit an Befürwortern, die jedenfalls um ein Mehrfaches über das bisherige Wählerpotential der Grünen hinausgeht.

 Gegen die Entsolidarisierung

Nach all diesen vorwiegend ökonomischen Betrachtungen erscheint mir abschließend noch eine grundsätzliche Klarstellung angebracht: Selbst wenn das - eingangs widerlegte - Gerede von der "Kostenexplosion" der Sozialsysteme zuträfe, wäre es zynisch und geradezu menschenverachtend , solch positive und erfreuliche Entwicklungen wie steigende Lebenserwartung und geradezu fantastische medizinische Möglichkeiten mit (Un)worten wie "Kostenexplosion" oder "Rentnerschwemme" zu belegen. Aber leider sind diesbezüglich grundlegende Wertmaßstäbe aus den Fugen geraten: Die sukzessive Demontage des Sozialstaates droht zur massiven Bedrohung fundamentaler Menschenrechte zu werden. So hat Ärzte-Präsident Karsten Vilmar bereits im Dezember 1998 öffentlich erklärt, die Ärzteschaft sehe sich zunehmend genötigt, das "sozialverträgliche Frühableben" zu fördern. In einer Meldung von Spiegel Online [14] über das britische Gesundheitssystem findet sich folgende skandalöse Passage: "Angesichts der Einsparungsmaßnahmen im britischen Gesundheitswesen ist keinesfalls garantiert, dass älteren Menschen lebensrettende Hilfe zuteil wird. So haben Rentner in Großbritannien keinen Anspruch auf eine Dialyse, wenn sie diese nicht selbst finanzieren. Und einige Gesundheitsökonomen vertreten heutzutage die Meinung: 'Zu sterben, um öffentliche Mittel zu sparen, kann die moralische Pflicht eines Staatsbürgers sein.' " Die Lebenserwartung von Mitgliedern der privaten Krankenversicherung in Deutschland ist etwa um 7 Jahre höher als die der gesetzlich Versicherten [15]. Deutet dies nicht darauf hin, dass Privatpatienten schon heute tendenziell eine bessere medizinische Versorgung zuteil wird? In solchen Beobachtungen zeigt sich eine besorgniserregende Entsolidarisierung, die langfristig zum gesellschaftlichen Zerfall führen muss. Bedenklich ist in diesem Zusammenhang auch, wie die beiden gleichermaßen bedeutsamen Ideale der sozialen und der intergenerationellen Gerechtigkeit mitunter gegeneinander ausgespielt werden, indem beabsichtigte Rentenkürzungen mit der Rücksichtnahme auf die nachfolgenden Generationen gerechtfertigt werden. Besonders zynisch ist es, wenn dies ausgerechnet aus dem Mund derjenigen kommt, die älteren Arbeitskräften (also solchen ab 38) keine Chance mehr geben, irgendwo unterzukommen, da sie nicht mehr "dynamisch" und "innovativ" genug sind.

Gerade angesichts dieser ethischen Dimension, die der Erhaltung der sozialen Sicherungssysteme zukommt, ist eine Reform, die diesen Namen auch verdient, so unverzichtbar. Das skizzierte Konzept weist einen Weg dazu. Dass seine Durchsetzung im politischen Alltag viel Standhaftigkeit und einen langen Atem erfordert, steht außer Frage. Aber muss es nicht gerade oberste und vornehmste Aufgabe der Staatskunst sein, die (echte oder vermeintliche) Kluft zwischen den Sachzwängen der sog. Realpolitik und den Grundsätzen der Ethik zu überwinden?