Katherina Reiches Generalangriff auf den Klimaschutz
1. Re-Karbonisierung statt Klimaschutz
Die Extremwetter im gerade zu Ende gehenden Sommer 2025 haben nach einer aktuellen Studie der Universität Mannheim in der Europäischen Union wirtschaftliche Schäden in Höhe von 126 Mrd. Euro verursacht – konservativ geschätzt.[1] In Kanada sind in der noch nicht beendeten Waldbrandsaison 2025 infolge zu trockenen Wetters erneut 8,8 Millionen Hektar Wald (88.000 Quadratkilometer) verbrannt.[2] Eine neue Studie von Klimawissenschaftlern, an der auch Stefan Rahmstorf vom Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung beteiligt ist, weist auf einen wahrscheinlichen Zusammenbruch der Atlantischen Meridionalen Umwälzströmung (AMOC) im kommenden Jahrhundert hin, wenn nicht sofort der Ausstoß von Treibhausgasen radikal reduziert wird.[3] Dies würde zu unbeherrschbaren Disruptionen im Klimasystem der Erde führen. – Die Klimakatastrophe macht keine Pause, nur weil die Politik nicht mehr von ihr spricht.
In dieser Situation hat das Bundeswirtschaftsministerium ein wahres Horrorpapier zur künftigen Energiepolitik vorgelegt.[4] Zwischen dem politischen Phrasengeklingel scheint die Hauptbotschaft deutlich hindurch: Die Energiepolitik des Ministeriums läuft auf eine Re-Karbonisierung der Stromerzeugung hinaus. Klimaschutz – immerhin eine Staatsaufgabe mit Verfassungsrang – wird im Wirtschaftsministerium unter Katherina Reiche (CDU) mit Füßen getreten. Reiche spricht lieber von „Bezahlbarkeit“ des Energiesystems, wie auf der Pressekonferenz bei der Vorstellung ihres Papiers. Dabei ist klar, dass ihre Vorschläge nicht nur immanent ein besonders teures Modell fordern, sondern auch die Folgekosten des klimapolitischen Bremsmanövers (man denke z.B. nur an die eingangs erwähnten 126 Mrd. Euro) konsequent ausblenden.
2. EWI-Gutachten: Ausbau EE und Klimaschutz sind zentral!
Reiche hatte Ende Juni das konzernnahe „Energiewirtschaftliche Institut“ (EWI) sowie die „BET Consulting GmbH“ mit der Erstellung eines „Monitoringberichts“ beauftragt, dessen Ergebnisse am 15. September der Öffentlichkeit vorgelegt wurden.[5] Der Bericht anerkennt dankenswerterweise, dass im „energiepolitischen Zieldreieck“ aus Preisgünstigkeit, Versorgungssicherheit und Umweltschutz nur der letztere – vor allem in Gestalt des Klimaschutzes – Verfassungsrang und deshalb vor den beiden anderen Zielen Vorrang genießt. Der Ausbau der Erneuerbaren Energien sei, so folgert das Papier, „weiterhin in hohem Umfang notwendig“; und wo die aktuellen Entwicklungen von den „normativ-zielerreichenden Szenarien“ abwichen, zeige dies die „Notwendigkeit zusätzlicher Maßnahmen, um das Klimaziel zu erreichen“.
In der Tat. Vor wenigen Wochen hat das Bundesverfassungsgericht die Bundesregierung (also vor allem Reiches Ministerium) aufgefordert, zur Verfassungsbeschwerde des SFV und des BUND sowie weiteren Beschwerden anderer Umweltverbände Stellung zu nehmen. Dies ist ein wichtiges Signal, dass die 2024 noch gegen unzureichende Klimaschutzbemühungen der Ampel-Regierung eingereichten Beschwerden in Karlsruhe sehr ernst genommen werden. Frau Reiche sendet mit ihrem Papier nun sozusagen das berühmte Zitat des Götz von Berlichingen nach Karlsruhe.
Nichts von den zitierten Erkenntnissen des eigentlich als Gefälligkeitsgutachten bestellten Monitoringberichts berücksichtigt der „Zehn-Punkte-Plan“ der Ministerin Reiche. Er konzentriert sich vor allem auf eine Aussage des Papiers: Für das Jahr 2030 würden lediglich 600 bis 700 Terawattstunden Elektrizität in Deutschland benötigt (statt der noch von Robert Habeck angenommenen 750 TWh). Damit lässt sich nämlich bei Beibehaltung des Ziels, 80 Prozent dieses Stroms sollten aus erneuerbaren Quellen stammen, eine Reduzierung des Ausbautempos der Erneuerbaren ableiten. Und das war das vorgegebene Ziel.
Tatsächlich ist die Prognose von 600 bis 700 TWh Strombedarf realistisch – wenn die gegenwärtige Verweigerung von Klimaschutz bis 2030 beibehalten wird. Wenn hingegen der Antrieb von Fahrzeugen und die Beheizung von Gebäuden durch politische Vorgaben konsequent auf elektrische Technologien (E-Motor, Wärmepumpe) umgestellt werden, wird der Strombedarf viel höher ausfallen. Hier business as usual zu betreiben, heißt, im Verkehrs- und Gebäudesektor gewaltige unnötige Emissionen von Treibhausgasen zu planen. Das hat mit einer „Erreichung der Klimaziele“ nichts zu tun. Dass die CDU/CSU gleichzeitig auf europäischer Ebene massiv gegen das beschlossene Zulassungsverbot für Verbrennungsmotoren ab 2035 lobbyiert[6], zeigt, dass genau dies beabsichtigt ist: eine Verfehlung der ohnedies zu schwachen Klimaziele, und mithin eine Missachtung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland.
3. Kurzanalyse: 10-Punkte-Plan des BMWE
Reiches Papier gliedert sich in zehn Punkte. Im abschließenden Fazit heißt es, damit würden „wirtschaftliche Realitäten akzeptiert“. Die Gestaltungsmacht der Wirtschaftspolitik zieht sich durch das ganze Papier, aber sobald es der Ministerin passt, kommt sie mit der ‚normativen Kraft des Faktischen‘, also des Status quo, der unantastbar sein soll, auch wenn der Planet dabei vor die Hunde geht.
Eine Prämisse des Papiers lautet, die „ungesteuerte Stromproduktion der erneuerbaren Energien“ führe zu „teuren Überschüssen“. Interessanterweise steht in dem Monitoringbericht, aus dem das Reiche-Papier ja abgeleitet sein will, der Satz: „Durch eine gezielte Überdimensionierung von Erzeugungsanlagen gegenüber der Netzanschlusskapazität könnte die Netzinfrastruktur deutlich effizienter genutzt werden.“ Der Bericht und die zehn Punkte stehen offenbar nur in einem lockeren Zusammenhang zueinander. Schauen wir uns nun die zehn Punkte von Reiches Papier kurz im Einzelnen an.
Punkt 1. Er geht von der genannten Bedarfsprognose (600-700 Twh p.a.) aus. „Wir bauen nur so viel zu, wie wir tatsächlich brauchen und es ökonomisch effizient ist“, schreibt Reiche. Denn: „Entscheidungskriterium in der Zukunft sind die Systemkosten.“ Man muss dies richtig verstehen: Entscheidungskriterium in der Zukunft soll nicht der verfassungsrechtlich gebotene Klimaschutz sein. Und der Begriff „Entscheidungskriterium“ verweist zwingend auf die Möglichkeit von Entscheidungen: Wie viel „wir tatsächlich brauchen“, ist Gegenstand solcher politischer Entscheidungen, unter anderem jener, die Frau Reiche sich mit diesem Papier gerade anschickt zu treffen. Es ist eine verfassungswidrige Entscheidung.
Punkt 2. Die Erneuerbaren sollen künftig „system- und marktorientiert“ gefördert werden. Es ist angesichts der beruflichen Vergangenheit von Frau Reiche verständlich, dass dies dasselbe bedeutet wie „konzernorientiert“. Es soll vor allem die dezentrale Bürgerenergiewende beendet werden. Den Millionen Haushalten, denen Deutschland den heutigen Stand der Energiewende verdankt, wird der Stinkefinger gezeigt: „Das bedeutet: die konsequente Abschaffung der fixen Einspeisevergütung […]. Außerdem soll eine Verpflichtung zur Direktvermarktung für Neuanlagen eingeführt werden.“ Sie wollen eine 6-kW-Anlage auf Ihr Dach setzen? Machen Sie sich erst mal mit „Contracts for Difference (CfDs) und Clawback-Mechanismen“ vertraut! Na, immer noch Lust? – Der Monitoringbericht konstatiert übrigens für die letzten Monate, „dass sich die Zubaudynamik im Bereich der Aufdachanlagen abschwächt“; dies könne die Zielerreichung des Erneuerbaren-Ausbaus mittelfristig gefährden. Frau Reiche plant nun eine Verstärkung dieses Trends.
Punkt 3. Der Ausbau von EE-Anlagen soll „bedarfsgerecht“ gesteuert werden. D.h.: „Wo die Netzsituation kritisch ist, trägt der Investor einen höheren Anteil an den Ausbaukosten“ und wird also vergrault. Außer es ist ein großer Player, der seine Freiflächenanlage ebensogut in Vorpommern wie in Unterfranken errichten kann.
Punkt 4. Im Namen der Versorgungssicherheit wird angekündigt: „Ausschreibungen für flexible Grundlastkraftwerke, insbesondere Gaskraftwerke mit Umstellungsperspektive auf Wasserstoff, werden priorisiert und pragmatisch gestaltet.“ Hier zeigt sich Reiches bei E.ON gelernte Präferenz für Erdgas, das in Deutschland noch auf Jahrzehnte hinaus Kohlendioxid und Methan in die Atmosphäre schicken soll. Interessanterweise soll diese „Priorisierung“ Bestandteil des „technologieoffenen Kapazitätsmarkts“ sein. – Ob die zurückgefahrene Strombedarfsprognose dazu führt, Frau Reiches völlig überdimensionierte Pläne für den Bau von Gaskraftwerken (20 GW) oder Friedrich Merz’ trumpeske Ankündigungen vom Beginn dieses Jahres („Wir müssen so schnell wie möglich 50 Gaskraftwerke in Deutschland bauen, die sofort ans Netz gehen.“[7]) zu dämpfen, darf bezweifelt werden.
Punkt 5. „Verbraucher erhalten marktnahe Preissignale. Lastmanagement, Batterien und andere Flexibilitätstools werden in variable Stromtarife und Netzentgelte integriert.“ Dagegen ist nichts einzuwenden.
Punkt 6. Hier endet die Marktnähe: „Die einheitliche Stromgebotszone bleibt erhalten“; d.h., der Windkraft verhindernde Freistaat Bayern profitiert weiterhin als Trittbrettfahrer von dem Windenergie-Ausbau der nördlichen Bundesländer, ohne angemessene Durchleitungsgebühren zu bezahlen. Das steigert auch den notwendigen Bau von teuren Übertragungsleitungen. Man vergleiche diese Überlegung mit den Ausführungen in Punkt 3. zu EE-Investitionen!
Punkt 7. „Alle Fördermaßnahmen und Subventionen werden auf ihren volkswirtschaftlichen Nutzen hin überprüft und auf das unbedingt nötige Maß reduziert.“ Man darf vermuten, dass in die Kalkulation des „volkswirtschaftlichen Nutzens“ die Vermeidung von Extremwetterkatastrophen nicht mit einfließt. Und man darf weiter vermuten, dass die Subventionsreduktion nicht für die Subventionierung von Agrardiesel und Flugbenzin gilt, und auch nicht für die Forschungsförderung von Phantom-Technologien wie der Kernfusion, sondern lediglich für Erneuerbare.
Punkt 8. Konsequent handelt dieser nachfolgende Punkt von der Forschungsförderung. „Wir wollen das Potenzial neuer Technologien wie beispielsweise Tiefengeothermie, Fusion, Wasserstoff und seine Derivate (in allen Farben) sowie Carbon Capture, Utilisation and Storage (CCS/CCU) erschließen …“ Halten wir zunächst fest, dass alle die genanten Technologien einer Logik des „Think big!“ folgen, womit die Akteursstruktur wieder auf Reiche-Linie liegt. Aber im Detail enthüllt sich noch mehr Aufschlussreiches. Zunächst die Einordnung der Kernfusion als „neue Technologie“. Bekanntlich wird an dieser Technologie bereits seit 75 Jahren geforscht, und seit 75 Jahren gilt bis heute das Versprechen, dass sie jeweils ‚in 30 Jahren‘ wirtschaftlich anwendbar sein würde – die „Fusionskonstante“. Diesen Zombie als „neu“ zu verkaufen, hat schon etwas Drolliges. – Wichtig ist weiter das farbenfrohe Statement zu Wasserstoff, der nun nicht mehr nur als „grüner“ (mit Erneuerbaren Energien gewonnener), sondern auch bei Einsatz von fossilen und nuklearen Energien gefördert werden soll. Eine kleine Hilfestellung für die darbende französische Atomindustrie, eine große weitere Quelle von Treibhausgas-Emissionen. – Und auch die hoch umstrittene CCS-Technologie soll im Zusammenhang mit der weiteren Verbrennung fossiler Rohstoffe gutes Forschungsförderungs-Geld erhalten. Frau Reiche hat die Idee und den Sinn von Dekarbonisierung schlicht noch nicht verinnerlicht. – Aber das Zitat war noch nicht ganz fertig. In all die genannten Technologien soll viel Geld gesteckt werden, damit „diese künftig einen substantiellen Beitrag zur Kosteneffizienz leisten können“. Man setzt von allen Optionen auf die teuersten – um Geld zu sparen. Das gilt im Jahre 2025 als Wirtschaftskompetenz.
Punkt 9. Der „Wasserstoff-Hochlauf“ wird noch einmal gesondert angesprochen, um die Buntheit des neuen Ansatzes zu unterstreichen: „Überkomplexe Vorgaben – wie die strenge Definition von ‚grünem Wasserstoff‘ auf EU-Ebene – werden abgebaut und durch pragmatische Kriterien ersetzt.“ Merke: Wenn im Hause Reiche der Begriff „pragmatisch“ fällt, darf man es mit der Angst bekommen.
Punkt 10. Auch CCS/CCU bekommt noch einen eigenen Punkt. Es sei „unverzichtbar für die Dekarbonisierung industrieller Prozesse“, „aber auch Kraftwerke und Energieerzeuger erhalten Zugang zu Investitionshilfen“. So viel zum Abbau von Subventionen. – Die nicht vorhandene öffentliche Akzeptanz soll durch „Informationskampagnen“ gefördert werden. Interessant, dass solche Kampagnen für die übrigen Grausamkeiten nicht angedacht sind!
4. Fazit
Wir sollen also als „wirtschaftliche Realitäten“ akzeptieren, was nicht weniger ist als ein brachiales Aushebeln der in den letzten Jahren endlich wieder in Gang gekommenen Energiewende. Es wird immer deutlicher: Mit dem Einzug einer Erdgas-Lobbyistin ins Bundeswirtschaftsministerium schwinden die letzten Hoffnungen, dass Deutschland seinen Beitrag zur Eindämmung der globalen Klimakatastrophe leisten wird. Dies ist nicht einfach eine falsche Politik – angesichts der Verwüstungen, welche die Klimakatastrophe bereits heute anrichtet und welche durch diese Politik weiter angeheizt werden, ist es ein Verbrechen. Ein Menschheitsverbrechen, um es genau auszudrücken.
5. Quellen